Sarum
Vorsichtsmaßnahmen gewesen. Sie war sich gewiß, in Avonsford für ihren Gatten und Sohn einen sicheren Hafen geschaffen zu haben. Aber als die Abenddämmerung sich senkte und die Hausgenossen gerade den Heiltrank aus dem Malmsey-Wein getrunken hatten, den sie bereitet hatte, fühlte sie eine plötzliche Schwäche. Sie faßte sich schnell; Gilbert hatte nichts bemerkt. Ein paar Minuten später war es vorüber, und sie dachte nicht weiter darüber nach. Nach einer halben Stunde bekam sie Schüttelfrost.
Im Kerzenschein bemerkten es weder Gilbert noch die Dienerin. Still zog sie sich ins Terrassenzimmer zurück. Kurz danach erbrach sie. Sie hatte keinerlei Zweifel, was es war. Gilbert war wahrscheinlich in seinem Stuhl in der Halle eingenickt. Sie war froh, ein bißchen Zeit für sich zu haben, um zu überlegen, was sie tun sollte. Nur ein Gedanke bewegte sie: Wie konnte sie die anderen Mitglieder des Haushaltes retten? Vermutlich hatte es keinen Sinn, sie wegzuschicken. Die Pest hatte wahrscheinlich bereits ihre Opfer im Herrenhaus ausgewählt.
Aber dann dachte sie an ihren Sohn. Monate war es her, daß sie sein fröhliches Gesicht und seinen Lockenkopf gesehen hatte. Wie sehr sie sich nach seinem Besuch gesehnt hatte! Aber jetzt durfte er auf keinen Fall nach Avonsford kommen.
Sie hatten nichts aus Whiteheath gehört – vielleicht war Thomas gerade unterwegs. Sie zitterte bei diesem Gedanken. Sie mußte sofort aufstehen, ihren Mann warnen und Boten aussenden, um ihn aufzuhalten. Wenn sie sich nur nicht so schwach fühlen würde! Sie schloß die Augen.
Das Klappern von Hufen ließ sie mit einem Ruck hochfahren. Ein Blick auf die heruntergebrannte Kerze neben ihrem Sofa sagte ihr, daß eine Stunde vergangen war. Panik erfaßte sie. Ein Reiter, der in der Dunkelheit im Herrenhaus eintraf – das konnte nur Thomas sein. Sie richtete sich mühsam auf und stolperte zum Fenster, um in den Hof hinunterzuspähen.
Ein Diener hatte das Tor geöffnet. Im Licht der Fackel, die er trug, konnte sie eine Gestalt erkennen, die vom Pferd abstieg. Verzweifelt rüttelte sie am Fenster. Er durfte nicht ins Haus kommen. Sie suchte etwas, womit sie das Glas zerschlagen konnte, aber da überkam sie wieder der Schwindel, und sie fiel zu Boden. Ein paar Minuten später stand Gilbert de Godefroi an der Tür und starrte auf seine Frau. Sie lag da, und ihr weißes Haar bedeckte ihr Gesicht wie ein Leichentuch.
Der Bote von Ranulf de Whiteheath, der unten im Hof wartete, hatte eine kurze Nachricht überbracht: »Mein Herr war unterwegs, als Euer Diener eintraf. Euer Sohn ist wohlauf, aber wir haben gehört, daß die Pest in Sarum ist. Wünscht Ihr dennoch, daß Euer Sohn zurückkehrt?« Als er sie wiederbelebt und zu Bett gebracht hatte, sah sie ihn ruhig und traurig an und sagte: »Du mußt den Jungen von hier fernhalten.« In dieser Nacht lag sie allein im Terrassenzimmer und bestand darauf, daß Gilbert auf seinem Stuhl in der Halle blieb. Beide schliefen unruhig, und er schaute mehrmals nach ihr.
»Bald wirst du dich besser fühlen«, versprach er. Beim ersten Tageslicht gab er ihr von dem Malmsey-Wein zu trinken. Kurz darauf erbrach sie wieder.
Die Beulen zeigten sich am folgenden Abend: kleine rote Pusteln in den Achselhöhlen und in der Leiste. Vor Einbruch der Dunkelheit waren sie schon so weit angeschwollen, daß Rose vor Schmerzen schrie, und bei Anbruch der Nacht verbreitete sich die Nachricht im Dorf: »Die Lady von Avonsford hat die Pest.«
Rose versuchte vergeblich, ihren Mann zu beruhigen. Er sandte nach dem Vikar, erfuhr jedoch, daß der zahnlückige Priester beim Anblick seiner toten Schafe aus Furcht geflohen war. Er betrachtete seine geliebte Frau mit ihrem schneeweißen Haar, das wie ein Heiligenschein auf dem Kissen ausgebreitet lag, und er sah mit Entsetzen, wie sich ihr Leib unter den höllischen Schmerzen aufbäumte. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, daß sie ihm genommen werden sollte. »Gott, rette uns alle«, rief er hilflos. Gilbert tat, was er konnte, füllte den Raum mit Kräutern, betete Tag und Nacht; er sandte nach anderen Priestern, und schließlich konnten zwei für eine hohe Summe überredet werden, aus Salisbury zu kommen. Aber die furchtbaren Beulen wurden größer; die in der Achselhöhle war bald so groß wie ein Apfel, weiß und heiß, und die Krankheit nahm ihren unausweichlichen Verlauf.
In dieser Nacht las der Ritter für sich allein in der Halle die Sage von Orpheus.
Nicholas Mason
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