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Sarum

Sarum

Titel: Sarum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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hatte am Tag zuvor nichts gegessen. Aber obwohl er fror, obwohl er durchnäßt und hungrig war, vergaß er alles – der schmale sechzehnjährige Junge lächelte vor sich hin.
    Er konnte den Fluß, der hundert Meter entfernt war, nicht sehen; auch nicht die Hügelkämme, die ebenfalls in Nebel gehüllt waren. Aber allmählich erkannte er die Landschaft unten: hier und da einen Baum, die Andeutung des Weges zum Hochland hinauf, denn jetzt ging die Sonne über den Hügelkämmen auf und wärmte das Dorf und das Herrenhaus von Avonsford.
    Langsam kam die gelbe Morgensonne hervor, und die Nebel lösten sich auf. Plötzlich hörte William aus dem Nebel über dem Fluß ein Flügelschlagen, dann tauchten aus den Nebelschwaden sechs Schwäne auf. Ihre mächtigen Flügel rauschten sirrend, als sie sich aus dem stillen, unsichtbaren Wasser erhoben und über das Tal hinwegflogen. Im selben Augenblick verging der Schleier am Abhang hinter dem Fluß und enthüllte das Haus.
    Wie schön es war! Die langen grauen Konturen mit den Giebeln schwebten gleichsam über dem Nebel und trieben wie ein Boot dahin. Er lächelte, und vergaß fast, daß dieses Haus und sein Bewohner alles, was er hatte, zerstört hatte. Denn heute morgen kam er, um endgültig Abschied zu nehmen.
    »Ich gehe«, murmelte er traurig, »sobald die Schwäne wiederkehren.« Das neue Herrenhaus von Avonsford war sehr vornehm – vornehmer noch, als der junge Will es sich vorstellen konnte, da er es niemals betreten hatte.
    Es stand auf demselben Grundstück wie das ehemalige Gebäude der Godefrois. Aber jenes war fünfzig Jahre lang so vernachlässigt worden, daß nur Teile in die neue Struktur einbezogen wurden, für die man den gleichen grauen Stein verwendete. Nun war es ein prachtvolles Domizil. Und dies gehörte Robert Forest.
    Zehn Jahre vorher waren John Wilson und sein Sohn Robert, Kaufleute in Salisbury, aus der Stadt gezogen; um der Veränderung ihrer gesellschaftlichen Stellung vom Kaufmann zum Gentleman Ausdruck zu verleihen, hatten sie einen neuen Nachnamen – Forest – angenommen, der ihre alte Verbindung mit dem Land unterstrich. Danach hatte John Wilson noch einige Jahre seine spinnenhafte Existenz im New-StreetGeviert fortgesetzt, war selten zu sehen und wurde jedes Jahr reicher. Robert und seine Familie bewohnten das Herrenhaus von Avonsford.
    Es war von dem neuen Lehnsherrn, dem Bischof von Salisbury, auf eine Zeit von drei Lebensspannen zu Lehen gegeben, auch für künftige Generationen, und die Forests machten sich sogleich an Verbesserungsarbeiten, die das Haus ihrem neuen vornehmen Status anpaßten. Es bestand aus einer geräumigen Mittelhalle und beidseitig je einem Zimmer mit Erkerfenster. Das größere war ein schönes Verandazimmer, ähnlich der ursprünglichen Halle der Godefrois-Ritter. Das kleinere Zimmer war jedoch Robert Forests besonderer Stolz: der Wintersalon. Es hatte einen großen Kamin, vor dem er mit seiner Familie sitzen konnte; eine Besonderheit war jedoch die prachtvolle Holzvertäfelung an den Wänden. Jede einzelne Tafel war in der neuen eleganten Faltenfüllweise geschnitzt.
    Als der alte John es sah und sich deswegen erkundigte, erläuterte Robert: »Es ist das Neueste. Alle Angehörigen der Gentry, die es sich leisten können, lassen sich so etwas machen.« Der alte Mann äußerte sich nicht weiter dazu.
    Im Wintersalon war eine schwere Eichenvitrine, in der Robert eine kleine Büchersammlung aufbewahrte, die ins Haus eines Gentleman gehörte. Es waren Bücher über Heraldik und Adelsfamilien; ein illustriertes Manuskript von Chaucers Canterbury Tales und auch eine neue Prosafassung der KönigArtus-Sage.
    Auf noch etwas war er stolz. »Ich habe das in London entdeckt«, erzählte er seinem Vater. »Ein Mann namens Caxton, Vorsitzender der Seidenhändlergilde, hat als erster die Buchstaben mit einer Maschine hergestellt.« Er zeigte dem alten John ein schön gebundenes Buch – eine Sammlung philosophischer Sprüche. Die Buchstaben waren statt von Hand geschrieben mit einer Maschine gedruckt.
    Im ersten Stock lagen über dem Salon die Schlafzimmer mit duftenden Matten auf dem Boden, und hinter dem Haus war ein Hof, umgeben von Küchen und Vorratsräumen.
    Eine erstaunliche Tatsache war – was die gegenwärtigen Bewohner allerdings nicht ahnen konnten –, daß das neue Herrenhaus fast genau über einem tief darunter liegenden Grundriß lag – dem einer römischen Villa, die eine Familie namens Porteus mehr als tausend

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