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Sarum

Sarum

Titel: Sarum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Königsmacher kaltblütig die Seiten wechseln mochten, versorgten Bürgermeister und Stadtgemeinde von Salisbury ungerührt beide Seiten gleichzeitig mit Geld und Truppen. Einer nach dem anderen fielen die mächtigen Feudalherren. Der Bruder des Königs, Herzog von Clarence, war erst vor kurzem ermordet worden – in einem Faß mit Malmsey-Wein ertränkt, ging das Gerücht. Ein weiterer Bruder, der verkrüppelte Richard von Gloucester, hielt sich abseits. Und Salisbury kümmerte sich immer noch keinen Deut um irgendeinen von ihnen.
    Der gegenwärtige König, Eduard IV. gehörte dem Hause York an. Für die Bürger von Salisbury war nur sein Reichtum ausschlaggebend; er war reich durch den Grundbesitz von Magnaten, die im Feudalkrieg gefallen waren, sowie durch eine hohe Zahlung, die der französische König geleistet hatte, nachdem Eduard gedroht hatte, in Frankreich einzufallen. Daher brauchte er keine Parlamente einzuberufen oder Steuern zu erheben. Genau das gefiel den Bürgern von Salisbury.
    Durch diese Ruhe gelangte Sarum zu Wohlstand. Zwar mußten die Bürger in der zehnjährigen Schlacht zwischen Halle und dem Bischof gezwungenermaßen nachgeben. Der Bischof blieb ihr oberster Feudalherr. Aber sonst hatte ihnen niemand Unannehmlichkeiten bereitet. Die St.-Thomas-Kirche besaß alles, was die Bewohner sich nur wünschen konnte. Es gab die prächtige Kapelle der St.-Georgs-Bruderschaft, die Votivkapelle von Swayne und anderen führenden Familien und die Votivkapelle der Schneidergilde. Der Klerus war zahlreich: über zwanzig Priester, sechzehn Diakone, zehn Unterdiakone, zehn Priester für Seelenmessen – an die sechzig Männer, die einer Gemeinde von zwei- bis dreitausend Seelen dienten. Will hatte den Eindruck, daß jedesmal wenn er vorbeikam, eine Messe oder ein Seelenamt gehalten würde. Das auffallendste Werk der Kirche war eben erst vollendet worden: ein riesiges Gemälde in der Breite des Kirchenschiffes über dem Altarbogen. Es stellte das Jüngste Gericht dar.
    Will fürchtete sich vor diesem Gemälde. Er konnte weder lesen noch schreiben, wußte auch kaum etwas über die Religion außer dem, was er aus den gelegentlichen Predigten der Priester in Avonsford aufgeschnappt hatte. Was er da sah, war furchteinflößend; er hegte keinen Zweifel, daß dieses Bild eine genaue Wiedergabe des schrecklichen Tages des Jüngsten Gerichtes war. Auf der einen Seite des Bildes war eine lebensgroße Darstellung des heiligen Osmund. Will betrachtete sie ehrfurchtsvoll, in der Annahme, daß der Heilige von Salisbury genauso ausgesehen haben mußte. Er war überwältigt von dem Gemälde. Kurz darauf führte ihn sein Weg aus der Stadt hinaus. Dunkle Sturmwolken waren von Westen her aufgezogen und ballten sich über Will zusammen, als er am verlassenen Kastellhügel von Alt-Sarum vorbeikam.
    Sie schreckten ihn nicht. Aber immer noch wußte er nicht, wohin er gehen sollte. So sorgfältig er auch Ausschau hielt, es kam kein Zeichen. Die Sonne durchbrach die wachsende braune Wolkenwand und ließ die weite Landschaft rötlich erglühen. Die Atmosphäre wurde zunehmend drückender, jene zitternde, fast spürbare Spannung baute sich auf, die der Entladung eines Gewitters vorausgeht.
    Will stand vor der alten Düne, eine mitleiderregende, schmale Gestalt, ohne Heimat, Eltern und Freunde, mit nichts als zwei Schillingen und der Goldmünze. Er umklammerte einen Stock, den er auf dem Weg zum Hochland von einem Baum gebrochen hatte; seine kleinen engstehenden Augen blickten über die weite Landschaft. Da lächelte er. Der aufziehende Sturm störte ihn nicht. Es war nicht kalt. Wenn er naß wurde, würden seine Kleider ihm am Leib trocknen. So leer und abweisend die Landschaft auch aussah – er wußte, wenn man danach sucht, gibt es immer Möglichkeiten zu überleben. Es gab Unterschlupf für Schafe, es gab Gehöfte, Dörfer, Weiler, wo ein Junge sich eine Mahlzeit beschaffen konnte. Noch besser: Es gab fromme Häuser – Klöster, Abteien, Bruderschaften –, wo die Mönche einem Fremden niemals Nahrung und Zuflucht verweigerten.
    Er hatte den heiligen Osmund um ein Zeichen gebeten. Das stand noch aus. Aber trotzdem wußte er instinktiv und mit absoluter Gewißheit, daß er überleben würde.
    Wenn kein Zeichen kam, mußte er sich selbst entscheiden; es gab einige Alternativen. Er konnte die nordwestlichen Siedlungen Bradford und Trowbridge ansteuern – beides waren blühende Tuchzentren. Ein paar Tagereisen weiter lagen der Fluß

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