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Sarum

Sarum

Titel: Sarum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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zurückgetrieben. Einige entkamen. Ralph beobachtete traurig dieses Debakel. »Zweiundzwanzig haben sie gefangen«, berichtete er abends seiner Familie. »Der Kanonikus kann heute nacht ruhig schlafen.« Ähnliches spielte sich auch an anderen Orten ab. Ralph Shockley erlebte noch einen der segensreichsten Beiträge zur Vereinfachung der englischen Justizverwaltung: die Entdeckung Australiens.
    »Die Männer, die dorthin gebracht werden, sind so sicher von der übrigen Menschheit isoliert wie Napoleon auf St. Helena«, legte der Kanonikus dar. »Flucht ist ausgeschlossen. Deshalb«, meinte er beruhigt, »braucht man sie, soviel ich hörte, nicht einmal in Zellen zu sperren.« Achtundzwanzig Gefangene wurden lebenslänglich, hundertdreiundachtzig für einen kürzeren Zeitraum deportiert. Während Ralph Shockley dem Abtransport zusah, glaubte er ein Gesicht zu erkennen. Er runzelte die Stirn. Da erinnerte er sich: Es war der junge Daniel Godfrey, die menschliche Vogelscheuche. Er war noch ein Kind und soeben zur Verbannung verurteilt worden. Und so, obwohl weder Ralph noch der Junge die geringste Ahnung davon hatten, sah ein Abkömmling der sächsischen Shockleys den letzten in der männlichen Linie der noblen normannischen Familie Godefroi Sarum verlassen, wohin sie sieben Jahrhunderte davor gekommen war.
    Nun endlich hatte es für Ralph Shockley den Anschein, als sei ein neues Zeitalter angebrochen.
    Im Jahre 1830 bestieg nicht nur ein neuer Monarch, Wilhelm IV. der Matrosenkönig, den Thron, sondern wichtiger noch: Der letzte reaktionäre Premierminister, der Herzog von Wellington, sah sich unter dem Druck des großen Iren Daniel O’Connel schließlich gezwungen, allen englischen Katholiken Stimmrecht und volle Freiheiten zuzugestehen. Er legte sein Amt nieder, und nach zwanzig Jahren politischer Öde kamen wieder die reformbereiten Whigs ans Ruder. Das große Reformgesetz von 1831 war der wichtigste Schritt zur englischen Demokratie seit Simon de Montforts Parlament fast sechshundert Jahre früher. Es war zunächst vorgesehen, die Rotten Boroughs abzuschaffen, neuen Gemeinden Vertretungen im Parlament einzuräumen und den vermögenden, unabhängigen Gutsbesitzern in Wahlkreisen das Wahlrecht zu erteilen – jedoch keine geheime Wahl. Es wurde allerdings im Laufe der Debatten die absurde Idee unterbreitet, das Wahlrecht allen Haushaltungsvorständen ohne Rücksicht auf ihre Besitzverhältnisse zuzubilligen. Es wurde sogar darüber abgestimmt, und der Vorschlag erhielt eine Stimme.
    Wie Porteus treffend bemerkte: »Wenn man der Mittelschicht so großzügig Wahlrecht erteilt, kommen als nächstes die unteren Klassen. Dem, mein Lieber, muß ein Riegel vorgeschoben werden.« So geschah es auch. Das Gesetz ging ständig zwischen Oberhaus und Unterhaus hin und her. Die Regierung gab auf und beraumte eine Blitzwahl an, die sie mit großer Resonanz gewann. »Das Gesetz, das Gesetz und nichts als das Gesetz«, erschallte der Ruf.
    »Danach kommen Reformen für die Fabriken, für Kinderarbeit, auch für die Bildung«, meinte Ralph Shockley zufrieden zu seiner Frau. »Gott sei Dank darf ich noch bessere Zeiten erleben.« Agnes bemerkte als erste die Veränderung bei Kanonikus Porteus. Zunächst dachte sie sich nichts dabei. Denn sie alle wurden ja älter. Frances war mit den Jahren immer gesetzter und in sich gekehrter geworden; ihre einzige Auflehnung gegen ihren Mann hatte sich nie wiederholt, war sogar vergessen – so nahm Agnes jedenfalls an. Daß der Kanonikus während der Verabschiedung des Reformgesetzes, das einen Angriff auf alles signalisierte, wofür er eingetreten war, ungewöhnlich schweigsam wurde, fand Agnes nur natürlich.
    »Du hast deinen Fall gewonnen, und er ist alt«, sagte sie zu Ralph. »Rege ihn nicht auf, indem du jetzt wieder davon anfängst.« Den größten Teil des Jahres sah Ralph den Kanonikus kaum.
    »Seit der Wahl hat der arme alte Porteus sein Haus fast nie verlassen«, scherzte er.
    Am 26. Juni 1832 läuteten die Glocken von Salisbury zur Feier der Verabschiedung der Reform-Akte, und in der Stadt brannten alle Lichter. Ziemlich lange hatte Porteus sich nicht mehr auf der Straße blicken lassen, aber wenn er nun stehenblieb, um etwas zu betrachten, hatten nur wenige den Mut, den steifen alten Kanonikus in seinen Träumen zu unterbrechen. Es war ungewöhnlich, daß er seinen schwarzen, breitkrempigen Hut nicht wie üblich trug; sicher wollte er gleich wieder nach Hause gehen.
    Er stand am

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