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Sarum

Sarum

Titel: Sarum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Eckhaus östlich der Chorsänger-Anlage gegenüber vom Eingang zum Kathedralgelände und hielt seine Augen anscheinend auf etwas weit Entferntes gerichtet.
    Einige Passanten verneigten sich höflich vor der ehrwürdigen Gestalt und grüßten, bekamen jedoch keine Erwiderung. Ein Wagen aus der Stadt mußte einen Bogen um den Kanonikus machen, und der Fahrer fluchte leise über den Hochmut des Klerus und der feinen Leute, die sich seinethalben nicht zu bewegen geruhten.
    Er stand immer noch da, als Ralph Shockley mit seiner Familie das Haus in der New Street verließ und sich auf den Weg nach Alt-Sarum machte. Als sie zurückkamen, war er noch an derselben Stelle. Gegen Mittag kamen ein paar Lausbuben vorüber. Sie hatten wenig Ehrfurcht vor der reglosen alten Gestalt in ihren altmodischen schwarzen Seidenstrümpfen, die wie ein zu Stein gewordener Baum dastand. Sie begannen neben ihm zu spielen. Am frühen Nachmittag bemerkte eines der Kinder, daß sich um die Füße des stillen Kanonikus eine kleine Lache gebildet hatte.
    Als zum Glück kurz darauf Doktor Barnikel vorbeikam, sah er, was geschehen war, und brachte den armen Porteus nach Hause. »Ich fürchte, daß sein Gemüt sich nicht wieder erholt«, sagte er am Abend zu Agnes.
    Der Kanonikus sprach nie wieder ein Wort.
    Es war ohne jeden Zweifel ein Segen, daß am 1. Oktober, an ebendem Tag, als Porteus in das alte Herrenhaus auf dem Fisherton-Anger gebracht wurde, wo Mr. William Finch ein zweckdienliches, gemütliches Privatasyl für Geisteskranke führte, der Kanonikus einen zweiten Anfall, diesmal einen Schlaganfall, erlitt und starb. »Ich bin nur traurig, daß er die Reformen noch erleben mußte«, gestand Frances. 1834 verstarb plötzlich der allseits beliebte, ledig gebliebene Doktor Thaddeus Barnikel. In seinem Testament hinterließ er seinen gesamten Besitz Agnes Shockley.
    Ralph war nicht überrascht. »Ich habe immer gewußt, daß er dich liebte, sogar schon, bevor ich weggehen mußte«, sagte er fröhlich.
    »Er war ein guter Freund«, antwortete Agnes.
    »Deshalb habe ich ihn auch gebeten, sich deiner anzunehmen«, fügte Ralph hinzu, »um sicherzugehen, daß er niemals…«
    Agnes sah ihn überrascht an. »War das nicht ein bißchen gefährlich?«
    »O nein, nicht mit ihm«, erwiderte er heiter. »Natürlich auch nicht mit dir«, fuhr er fort, nachdem er eine Spur zu lange gezögert hatte.
E MPIRE
    1854: Oktober
Die Nachmittagssonne glänzte auf den Eisenbahnschienen. Für Jane, die auf dem Bahnsteig in Milford stand und nach Osten blickte, zurück in Richtung Southampton, waren die leuchtenden Metallbänder wie das Versprechen einer fernen, helleren Zukunft, einer größeren Welt: Jane Shockley wünschte sich, Sarum zu verlassen. Sie wollte Krankenschwester werden, und das mit allen Fasern ihres Herzens.
    Sie war mittelgroß, ihr Haar schimmerte in hellem Kastanienbraun, gelegentlich hatte es einen rötlichen Glanz. Ihre blauen Augen blickten so offen und direkt, daß sie einen aus der Fassung bringen konnten. Sie war nicht schön – lachend pflegte sie sich über ihre zu große Nase zu beklagen –, aber die Mädchen in ihrer Schule, die sich in diesen Dingen auskannten, fanden sie recht passabel.
    Jane nahm ihren kleinen Koffer. Wo war der Gepäckträger? Plötzlich kamen ihr Zweifel: Wollte sie wirklich den Pflegeberuf ergreifen, oder wollte sie eine Leidenschaft befriedigen? Was suchte sie eigentlich? Sie lächelte in sich hinein: Wahrscheinlich war es beides. Sie ging am Zug entlang zur Lokomotive, die neben dem Stationshaus den Dampf abließ. Jane war wieder in Sarum, doch nicht für lange. Ja, man hatte sie bei dem Vorstellungsgespräch abgewiesen, aber sie machte den Leuten keinen Vorwurf. Man hatte ihr auch geraten, was sie tun sollte, und jetzt würde nichts mehr sie zurückhalten können. Jane betrachtete das vertraute Bild. Da waren sie, die Freunde aus Kindertagen – die kahlen Kreidekämme im Halbrund –, und blickten stumm auf die Stadt hinunter. Im Norden lag der Hügel von Alt-Sarum, und dort in der Mitte sah sie den Turmhelm, der bis an den stillen blauen Himmel zu reichen schien. Sarum! Sie liebte diesen Ort – er war ein Teil von ihr und würde es immer bleiben. Auf dem Heimweg überdachte sie die jüngste Vergangenheit. Gestern war sie Florence Nightingale begegnet. Erst zehn Tage zuvor hatte der Artikel von Russell in der Times – einer der wichtigsten, die je in diesem erlauchten Blatt erschienen – in ganz England wie

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