Sarum
fast ganz aus den Augen, denn Onkel Stephen hatte wieder eines seiner Leiden, nämlich eine schwere Erkältung, die, so beteuerte er, sich jederzeit zu einer Lungenentzündung auswachsen könne. Selbst der Arzt äußerte sich einmal leicht beunruhigt, also mußte Jane ständig um ihn sein, wenn sie nicht gerade unterrichtete. Anfang Dezember kamen Arzt und Onkel schließlich überein, daß die Gesundheit wiederhergestellt sei. Anfang Dezember traf sie auch Daniel Mason am Eingang zum Kathedralgelände.
»Schlechte Nachrichten, Miss Shockley. Jethro Wilson muß sich wieder dem Trunk ergeben haben, fürchte ich.«
»Wieso?«
»Die Zahlungen für die Kinder haben aufgehört. Sie waren vor einer Woche fällig, und wir wissen nichts von ihm.«
»Vielleicht ist er krank. Ich reite heute nachmittag hinüber.« Es tat Jane gut, nach der vierwöchigen Pflege des Onkels die Stadt hinter sich zu lassen und auf andere Gedanken zu kommen. Es war ein heller kalter Tag, und als sie endlich in Winterbourne eintraf, führte sie ihr Pferd vorsichtig auf der glatten Straße, die vom Wasser aus dem Bach überflutet worden und nun von einer Eisschicht bedeckt war. Der Hof war nicht verlassen; eine dünne Rauchsäule stieg aus dem Kamin, aber Jane mußte mehrmals laut gegen die Tür hämmern, ehe Jethro selbst öffnete.
Sicher hatte er nicht viel getrunken, obwohl sie den leichten Geruch von Gin aus seinem Mund wahrzunehmen glaubte. Aber er hatte sich seit Tagen nicht rasiert und sah insgesamt ungepflegt aus. Sein Gesicht wirkte schmal und eingefallen. Sie hatte das Gefühl, daß er länger nichts gegessen hatte. »Darf ich hereinkommen?«
Er machte schweigend eine Geste zum Wohnraum hin. Das Feuer in dem großen, gemauerten Herd war heruntergebrannt. Jethro hatte sich wegen der Wärme einen hölzernen Schemel herangezogen. Der Raum war nur spärlich möbliert. Auf dem Tisch in der Mitte des Raumes lagen Reste eines altbackenen Brotlaibes. Jethro bot ihr den einzigen Schaukelstuhl an, auf dem eine grobe Wolldecke lag. »Nun, Mr. Wilson? Mr. Mason schickt mich wegen Eurer Kinder.« Jethro nickte langsam. »Ich habe kein Geld mehr. Sie müssen zurückkommen.«
»Ohne Geld?«
Er starrte ins Feuer. »Ich habe eine Kuh, die ich verkaufen kann. Den besten Preis werde ich auf dem nächsten Markt erzielen. Ich bezahle dann das schuldige Kostgeld und nehme die Kinder wieder zu mir.« Er verzog das Gesicht. »An Weihnachten kann ich ihnen allerdings nicht viel schenken.«
Er wandte sich ihr zu und blickte sie an. Es tat ihr leid, wie mitgenommen und niedergedrückt die vor kurzem noch so kräftige Gestalt wirkte. »Ich muß den Hof aufgeben und woanders hinziehen.« Sie überlegte. Der Tuchhandel nahm gerade wieder einen, wenn auch bescheidenen, Aufschwung. In Wilton gab es die Teppichfabrik, die jetzt über zweihundert Menschen beschäftigte; Jane hatte gehört, daß die Färbereien in Salisbury zusätzliche Arbeitskräfte suchten. In Downton am Avon gab es Papiermühlen und natürlich die Eisenbahn. Sie konnte sich diesen Mann hier bei keiner dieser Tätigkeiten vorstellen. »Einmal war ich auf einer Versammlung, wo der Brief von einem Mann namens Godfrey in Australien vorgelesen wurde«, sagte er. »Man kann sich kaum vorstellen, was für ein gutes Leben die Bauern dort haben. Und das Essen! Die Hälfte der Leute wollte sofort ein Schiff nach Australien nehmen.«
»Ja, das möchten viele. Und Ihr?«
Er seufzte. »Eigentlich nicht, Miss. Es gibt eine Möglichkeit«, fuhr er fort, »ich kann den Hof aufgeben, Sarum verlassen, und auf die andere Seite der Ebene ziehen – zu dem einzigen Vetter, der noch mit mir spricht!« Er grinste. Dieser Vetter hatte einen Hof in der Käseregion und brauchte Hilfe. »Ich könnte dorthin gehen, aber dann müßte ich für ihn arbeiten«, erklärte er. »Und«, er zögerte, »das möchte ich nicht.«
»Diesen Hof könnte man wieder rentabel machen.« Sie ließ nicht locker.
Er sah sie so nachsichtig an, als wäre sie ein Kind. »Nicht ich.« Der Anblick dieses niedergeschlagenen Mannes schmerzte sie. Und plötzlich rief sie impulsiv aus: »Würdet Ihr Hilfe, finanzielle Hilfe, akzeptieren?«
»Von wem denn?«
Sie lächelte ihn erwartungsvoll an. »Von mir.« Die Investition Jane Shockleys in Jethro Wilsons Hof war für sie keine große Belastung. »Außerdem werde ich mir, wenn wir Bilanz machen, für meine Investition einen Gewinnanteil nehmen«, sagte sie. Es war das aufregendste Projekt, das Jane
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