Sascha - Das Ende der Unschuld
blöder Hund, lass mich gefälligst ausreden. Ich nehme dir dein Theater nicht ab. Marc starb vor sieben Monaten und du hast immer noch nicht damit abgeschlossen, das ist der Grund dafür, dass du dich benimmst wie ein selbstherrliches Arschloch. Du hast mich weggeschickt, damit du dich mit all diesen Leuten umgeben konntest. Mein Fehler war nur, dass ich dich an Marc und die Zeit mit ihm erinnere. Aber deshalb kannst du dir selbst trotzdem nicht entfliehen. Ich sag dir jetzt, wo seine Mutter ihn begraben ließ, was du daraus machst, ist allein deine Sache. Marc liegt auf dem Leidenhausener Friedhof. Seine Mutter ist nach Urbach gezogen, nachdem sie noch mal geheiratet hat.“
Er ließ Sascha los. Dieser richtete gedankenlos sein Hemd.
„So? Und er hat dir also ein Telegramm von dort geschickt, damit du mir Bescheid sagen kannst, ja?“
„Nein, ich habe nur vor einer Woche den Krankenpfleger gevögelt, der die Papiere damals in die Hand bekommen hat. Wir kamen zufällig darauf und er besorgte mir die restlichen Informationen.“
„Wozu? Es interessiert mich nicht.“
„Bitte, Sascha, hab ich doch gern getan. Und jetzt entschuldige mich.“
Damit verließ Jimmy das Lokal und ließ einen Sascha zurück, der vor sich selbst unter gar keinen Umständen zugeben wollte, dass ihm diese Nachricht nahe ging. Um sich zu schützen, hatte er die Geschehnisse von damals so tief in sein Unterbewusstsein verbannt, dass er den Zugang auch jetzt einfach nicht finden wollte. Er ging dazu über, noch unkontrollierter zu trinken und erlebte das Ende seines eigenen Geburtstages nicht mehr. Schon gegen ein Uhr in dieser Nacht brachte René ihn in die Wohnung, damit er seinen Rausch ausschlafen konnte.
✵
Obwohl er es nicht wollte, kam am nächsten Tag immer wieder der Gedanken an den Leidenhausener Friedhof hoch. Er begann, sich abzulenken und versuchte so zu verhindern, dass die bisher mit Erfolg zur Seite geschobene Trauer in ihm wieder die Oberhand gewann. Er wollte nicht an Marcs Grab gehen, denn dann würde unabwendbar alles wieder aufbrechen. Doch schon am nächsten Morgen hatte er den Kampf verloren. Er fuhr nach Urbach und stand eine halbe Stunde lang vor dem Portal des Friedhofs.
Es fiel ihm unsagbar schwer, den ersten Schritt durch diesen Eingang zu machen. Er hatte Angst vor dem, was er empfinden würde, wenn er an Marcs Grab stand. Doch dann überwand er sich schließlich doch und ging langsam los.
Beinahe zwei Stunden irrte er über das Gräberfeld, suchte Marcs Grab. Als er es schließlich fand, starrte er müde und mit leerem Blick auf das schlichte Holzkreuz des Armengrabes. Einen langen Moment benötigte er, um zu begreifen, dass dort unten Marc lag, aber dann traf ihn die Erkenntnis mit Macht. Die mühsam aufrecht gehaltene Maskerade fiel von seiner Seele ab, die vergangenen sieben Monate schmolzen zusammen zu einem einzigen Tag und er glaubte, seinen Freund gerade gestern verloren zu haben. Er ließ sich auf die Knie fallen und legte seine Hände auf den feuchten, schmucklosen Erdhügel. Vor seinem geistigen Auge erstand das Bild seines Freundes, als er ihn damals in der Klinik verließ. Und plötzlich konnte er weinen. Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit ließ er seinen Tränen freien Lauf, und diese erlösten ihn aus dem Gefängnis der Traurigkeit und Selbstanklage. Ganz von selbst begann er, mit Marc zu sprechen. Er sagte ihm, wie sehr er ihn vermisste und dass er ihn niemals hatte um Jimmys Willen benachteiligen wollen. Er bat um Verzeihung dafür, dass er nicht da war, als Marc ihn am nötigsten brauchte. Schließlich versiegten seine Tränen, er stand auf und erinnerte er sich plötzlich an Marc, wie dieser vor der Zeit war, als es ihm so schlecht ging. Er konnte die Gedanken an die schönen Augenblicke mit seinem Freund wieder zulassen.
Sascha war schon morgens auf den Friedhof gekommen. Aber es wurde bereits dunkel, als er nach einem ständigen Wechselbad seiner Gefühle wieder gehen konnte. Als er sich schließlich durchgefroren und vollkommen erschöpft in seiner mittlerweile feuchten Kleidung auf den Weg zurück machte, ging es ihm etwas besser.
✵
Saschas Besuch an Marcs Grab hatte zur Folge, dass er innerlich ruhiger wurde, aber auch, dass er plötzlich nicht mehr Männer um sich versammelte und mit ihnen schlief, nur um nicht nachdenken zu müssen. Er musste sich nicht mehr selbst betrügen.
Aber diese plötzliche Außerkraftsetzung seiner bequemen Oberflächlichkeit hatte Folgen. Er
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