Sascha - Das Ende der Unschuld
Deshalb konnte Sascha Marc auf seinem letzten Gang nicht begleiten, hatte keine Möglichkeit, endgültig von seinem Freund Abschied zu nehmen. Der Alltag nahm Sascha übergangslos zurück in die anonymen Arme. Es gab nichts, das einen Schlussstrich unter Saschas seelische Erschütterung durch den Verlust seines einzigen Kameraden gesetzt hätte. Und so gab es für ihn auch keine Basis für einen neuen Anfang.
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Im folgenden Sommer schien es, als habe Sascha wirklich einfach so zur Tagesordnung übergehen können. Obwohl ihn alles in seinem Umfeld an seinen toten Freund erinnerte, zwang er sich, damit zu leben. Er führte den Laden zum Teil allein, teils aber auch mit ständig wechselnden Hilfen, die er dann gleich mit zu sich ins Bett nahm. Er wusste es einzurichten, dass er so gut wie niemals allein im Bett oder auch nur in seiner Wohnung bleiben musste. Sein attraktives Aussehen half ihm dabei, er bekam so gut wie jeden, den er wollte.
Wenn dies einmal nicht funktionierte, trank er soviel, dass er sofort einschlief, wenn er sich angezogen auf das Bett geworfen hatte oder sich gleich auf einer der Bänke im PASSION zusammenrollte. Eine Beziehung ging er niemals ein. Sobald er merkte, dass sich einer seiner Gespielen zu sehr auf ihn einließ, schoss er ihn meist nicht sehr feinfühlig ab. Nur so musste er sich nicht mit seinen eigenen Gefühlen oder den Emotionen anderer beschäftigen.
Man konnte also nicht sagen, dass er allein war, aber er blieb den ganzen Sommer über einsam. Und das, obwohl er überall in der Kölner Szene quasi zu Hause war. Er hatte viele Namen im Kopf, viele Telefonnummern in seinem Kalender. Nur an einen schien er nicht mehr zu denken – an Marc.
Lediglich, wenn er eintauchte in seine Träume war sein Freund wieder bei ihm. Er erlebte vieles von dem noch einmal, was früher geschehen war und wenn er aufwachte, spürte er feuchte Spuren in seinem Gesicht. Sollte er doch noch Tränen haben? Nach solchen Nächten stürzte er sich noch intensiver in Episoden mit Männern, die ihm nichts bedeuteten.
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Im September stellte Sascha zwei Aushilfen für das Lokal ein, die er beide bei sich wohnen ließ. René und Günther waren dreiundzwanzig, kannten einander schon länger und hatten nichts dagegen, jetzt mit Sascha eine erotische Dreierbeziehung zu führen. Sascha kostete den Sex mit ihnen hemmungslos aus, lebte aber ansonsten nur neben ihnen her, als wären sie Fremde. Sie sorgten für seine exzessiv geforderte, sexuelle Zufriedenstellung und dafür, dass er nicht allein in der Wohnung sein musste. Ansonsten waren sie nichts weiter als bezahlte Fremde, die ihm im Lokal zur Hand gingen.
So wurde es November. Seinen neunzehnten Geburtstag wollte Sascha ganz außergewöhnlich feiern. Man konnte absehen, dass das Lokal aus allen Nähten platzen würde und dies war genau das, was Sascha sich vorstellte. Er würde viel trinken, sich feiern lassen und dafür zahllose Runden ausgeben. So musste er nicht darüber nachdenken, dass dies nicht das Leben war, das er wollte.
Schon gegen zweiundzwanzig Uhr war er angetrunken, zweimal im Darkroom gewesen und knutschte soeben mit einem seiner Gäste, während Günther und René wie die Wilden arbeiteten. Plötzlich stand Jimmy am Tresen und tippte Sascha auf die Schulter. Er war seit damals nach Marcs Tod, als Sascha ihn hinauswarf, nicht mehr dort gewesen. Sie hatten sich zwar einige Male wiedergesehen, aber niemals auch nur ein Wort miteinander gewechselt. Deshalb sah ihn Sascha jetzt auch einigermaßen erstaunt an.
„Hast du dich verlaufen?“
„Probably. Alles redet davon, dass du deinen Geburtstag feierst, da dachte ich, ich sollte herkommen und dir dabei helfen. Ich denke, ich habe auch das richtige Geschenk dabei.“
Sascha schob den gerade noch bevorzugten Gast zur Seite.
„Ach ja? Was denn?“
„Zuerst eine Frage ... weißt du inzwischen, wo Marc beerdigt wurde?“
Ein Ruck ging durch Saschas Körper.
„Was soll das denn jetzt? Ist doch egal, wo sie ihn verscharrt haben. Er ist tot und das Leben geht weiter.“
„Du bist ein Arschloch, das ist dir hoffentlich klar. Er liegt auf einem Friedhof ...“
„Was du nicht sagst. Hört mal alle zu – Tote legt man heutzutage auf einen Friedhof. Ich dachte, man versenkt sie im Baggersee“, rief Sascha gegen die Musik an.
Jimmy trat auf ihn zu, riss ihn am Hemd zu sich heran, bis ihre Gesichter dicht voreinander waren. Dann sagte er so, dass nur Sascha ihn verstehen konnte:
„Du
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