Sascha - Das Ende der Unschuld
mannhafter als er selbst und wollte ihn aufgrund seiner Entgleisung nicht verlassen.
In diesem Moment schwor er, seine Frau nie wieder zu hintergehen. Er gelobte sich, seine Schuld abzutragen, indem er ihr wenigstens ein treuer Weggefährte war. Und wenn er der erste und einzige Schwule auf der Welt sein würde, der seine Triebe niederzwingen konnte – er würde es tun. Auch ohne Kind. Wenigstens das war er ihr schuldig. Trotzdem kam er mit seinem Gewissen nicht ins Reine, er glaubte den Tod seines Kindes nie sühnen und erst recht nicht überwinden zu können.
Während er seine Homosexualität bisher nur als mehr oder weniger störend und kurzzeitig sogar für nicht der Wahrheit entsprechend empfunden hatte, begann er seine für ihn mittlerweile widerwillig akzeptierte Neigung nun regelrecht zu hassen. Sie hatte ihm die Unschuld und seine Jugend genommen, brachte ihn in die tiefsten Abgründe des sozialen Abstiegs und nahm ihm durch ihre irreparablen Demütigungen die Selbstachtung. Nun hatte das Schwulsein auch noch seinem Kind das Leben gekostet.
Sascha war so verstrickt in seine Verzweiflung, dass er nicht erkennen konnte, dass er wieder einmal falsche Schuldzuweisungen machte.
✵
Schon am nächsten Tag, als er Stefanie in der Klinik besuchte, bat sie ihn, mit nach Hause kommen zu dürfen. Sie wollte nicht mehr im Krankenhaus bleiben. Sascha schaffte es, sie zu überreden, wenigstens bis zum nächsten Tag auszuhalten. Er wusste, noch konnte er es nicht bewältigen, sich um sie zu kümmern. Er musste zuerst mit sich selbst klarkommen. Deshalb begann er am gleichen Abend, das Kinderzimmer auszuräumen. Er verpackte alles und brachte es auf den Speicher. Dabei musste er immer wieder pausieren, weil seine Energie einfach verlosch als sei er ein kraftloser Greis. Ganz zum Schluss saß er mit dem Kissen aus der Wiege in seinen Armen in einer Ecke des leeren Zimmers und starrte mit dumpfem Blick zum Fenster hinaus. Es dauerte bis tief in die Nacht, bis er auch dieses letzte Teil wegbringen konnte.
Nicht wie versprochen morgens, sondern erst am nächsten Nachmittag fuhr er ohne geschlafen zu haben zu Stefanie. Heute würde er sie mit nach Hause nehmen können, das hatte er sich vorgenommen und ihr gemeinsames Zuhause dementsprechend vorbereitet. Sie würde auch dort liegen und gesund werden können. Scheinbar hatte Stefanie ihren Eltern nichts von Saschas Verschulden an der Fehlgeburt erzählt. Sie gaben sich ihm gegenüber sehr mitfühlend und es wurde kein Problem, seinen Schwiegervater von ein paar Tagen Urlaub zu überzeugen.
Es war gegen sechzehn Uhr, als er in Stefanies Zimmer kam. Sie lag nicht in ihrem Bett und er wunderte sich. Eine Schwester informierte ihn darüber, dass seine Frau die Klinik vor einer knappen Stunde auf eigene Verantwortung verlassen hatte. Scheinbar hatte Sonja sie abgeholt und nach Hause gebracht. Sie verpassten sich dort wohl gerade um ein paar Minuten. Sascha hatte die Station beinahe wieder verlassen, als die gleiche Schwester, die ihm Auskunft gab, ihn einholte. Sie hatte einen Umschlag in der Hand.
„Bitte, Herr Dombrowsky, die Unterlagen. Als ihre Frau ging, waren sie noch nicht fertig. Sie sollte sie bei ihrem Gynäkologen abgeben.“
Sascha nickte und saß wenig später im Auto, wo er den Befund im verschlossenen Umschlag betrachtete wie ein Todesurteil. Dort drin stand, warum genau Stefanie das Kind verloren hatte. Hier wurde aufgeschrieben, dass er, Sascha, schuldig war. In seine Überlegungen mischte sich eine Art masochistische Neugier. Er wollte wissen, was in diesen Papieren stand. Und so öffnete er dem Umschlag und begann zu lesen.
Je weiter er kam, desto unverständlicher kam ihm das Ganze vor. Da stand nichts von einer Fehlgeburt, nichts von einem Baby. Dort las er lediglich etwas von einer Schleimhautwucherung im Uterus. Den Angaben nach war Stefanie wegen Schmerzen gekommen und hatte sich für die notwendigen Untersuchungen aufnehmen lassen. Schließlich weigerte sie sich jedoch, diese Polypen entfernen zu lassen und war nach zwei Beobachtungstagen auf eigenen Wunsch entlassen worden. Immer wieder las Sascha diesen Passus, blätterte dann wie wild zwischen den Seiten umher.
Überschuss an Follikelhormon – Ausschabung – feingewebliche Untersuchung ... Sascha schwirrte der Kopf. Kein Wort von einem Abort. Der Verdacht, der sich jetzt langsam in ihm entfaltete, war so ungeheuerlich, dass es ihm schwerfiel, ihn zu Ende zu denken. Hastig schaute er nach dem
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