Satans Erbe (German Edition)
sie an, ihr Blick war ungetrübt. Sie erkannte sie. Das Mädchen war verängstigt und verwirrt, aber sie machte den Eindruck, ihre Situation bewältigen zu können. Dieser seltsame Brief hatte wahrhaftig etwas in ihr verändert.
»Danke, gut. Wo bin ich?«
Sibylle brauchte ein paar Sekunden, um sich zu sammeln. »Darf ich mich auf dein Bett setzen?«
»Natürlich.« Elisa rutschte zur Seite. Ihre Stimme klang leise und klar, nicht so, wie Sibylle es erwartet hatte. Normalerweise verkümmerten die Stimmbänder und die Patienten mussten erst wieder lernen, zu sprechen. Sie setzte sich auf die Bettkante.
»Du darfst jetzt nicht erschrecken.« Sibylle griff erneut nach Elisas Hand. »Dies ist ein Sanatorium, eine Art privates Krankenhaus, und wir wollen dir helfen, gesund zu werden.«
»Warum? Was habe ich denn?«
»Du hast seit elf Jahren kein Wort gesprochen.«
»Papa? Wo ist mein Papa? Gestern hat er mir doch noch … So lange?« Elisa rutschte zurück in ihr Kissen.
Sibylle gab sich Mühe, besonders ruhig und gelassen aufzutreten, als sie nickend bestätigte: »Ja Elisa, elf Jahre. Seit neun Jahren bist du hier.« Sie ließ der jungen Frau Zeit, die Erkenntnis zu verarbeiten, bevor sie fragte: »An was erinnerst du dich?«
Elisa schloss die Augen. Tränen quollen unter ihren Wimpern hervor und bahnten sich einen Weg die blassen Wangen hinab. Plötzlich fuhren Elisas Hände in ihr Gesicht und wischten zornig die Tränen weg. Sie stützte sich auf die Ellbogen.
»Nichts. Mein Kopf ist leer.«
»Möchtest du, dass wir gemeinsam versuchen, die Leere auszufüllen? Bist du bereit, eine Therapie zu machen, Elisa?« Gespannt wartete sie auf ihre Antwort.
»Was denn für eine?«
»Ich würde dir Hypnose vorschlagen. Wir können miteinander den Weg zurückgehen, den du gekommen bist.«
»Was ist mit dem Brief?«
»Ich habe ihn bei mir. Möchtest du ihn haben?«
»Ich weiß nicht. Ich habe Angst.«
»Woher kommt der Zettel?«
Elisa zeigte auf den Boden vor der Zimmertür. »Da lag er. Ich … ich kam vom Abendessen, glaube ich.«
Sibylles Gedanken rasten. Was lief hier ab?
»Bin ich Elisa?«
»Ja.« Sibylle verschwieg, dass man nichts Näheres über sie wusste und ihr Name nur auf der Gravur des Armbändchens beruhte, das sie bei ihrem Auffinden getragen hatte. Allerdings, so musste sie zugeben, bestätigte dieser ominöse Brief, der mit Liebe Elisa anfing, diese These.
»Erinnerst du dich an deinen Namen?«
»Hmm? Weiß nicht … Aber auch sonst weiß ich nichts. Ich kenne das Zimmer, weiß, dass draußen im Garten Bäume stehen …, aber ich kann mich weder an mich noch an sonst jemanden erinnern … außer … Papa …«
»Du erinnerst dich an deinen Vater?«
Elisa schüttelte den Kopf. »Nein. Ich dachte, ich würde mich erinnern. Aber wenn ich versuche, eine Erinnerung in Worte zu fassen, ist sie wieder weg.«
»Ich bin zuversichtlich, dass wir dir mit einer Therapie helfen können. Lass uns so schnell wie möglich beginnen.«
»Okay, geht klar, denke ich.«
»Sehr gut.« Sie würde noch heute mit ihren Kollegen einen Therapieplan aufstellen. »Magst du mich zum Frühstück begleiten?«
Elisa nickte.
Sibylle erhob sich und ging zum Schreibtisch, während Elisa ins Badezimmer huschte. Sie zog leise die Schubladen auf. Sie waren leer, es lagen keine weiteren Zettel darin. Nein, sie hat ihr die Fortsetzung nicht unterschlagen. Ihre Habe stapelte Elisa ordentlich oben auf dem Sekretär, auf dem Sideboard und ihrem Nachttisch. Nach ein paar Minuten kam Elisa geduscht und angekleidet zurück.
Das hatte sie in all den Jahren allein gemacht. Nun sprach sie wieder. Hoffentlich konnte Sibylle ihr jetzt endlich helfen. Sie wollte Elisa am Ellbogen stützen, entschied sich aber dagegen, als ihr bewusst wurde, wie selbstständig Elisa sich bewegte. Immerhin lebte das Mädchen hier nicht erst seit gestern, tadelte sich Sibylle und folgte Elisa in den Speisesaal.
Die meisten Patienten hatten bereits gefrühstückt, saßen aber noch an dem langen Tisch in der Mitte des Raumes. Elisa ließ sich auf einem freien Platz nieder, den Kopf gesenkt, wie immer. Sibylle setzte sich ebenfalls und richtete ihre Aufmerksamkeit auf die anderen Anwesenden. Sie überlegte, ob es einem der Patienten zuzutrauen war, diesen Brief verfasst zu haben. Genauso schnell, wie der Gedanke gekommen war, tat sie ihn wieder ab. Es hätten auch Besucher oder das Pflegepersonal sein können, vielleicht sogar einer ihrer
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