Satans Erbe (German Edition)
unter hypnotischer Regression nicht selten war, dass die Hypnotisanden ein gesteigertes Erinnerungsvermögen besaßen und sich an den Wochentag bestimmter Ereignisse erinnerten. Es ging sogar so weit, dass ihnen Dinge einfielen, die sie damals nicht bewusst wahrgenommen hatten. Elisa konnte aber nicht an einem Sonntag eingeschult worden sein. Sibylle hegte die Vermutung, dass es sich bei ihrer Erzählung zumindest in Teilen um ein False-Memory-Syndrom, eine Pseudoerinnerung handelte. Solche falschen Erinnerungen entsprachen keinem tatsächlich erlebten Geschehen, wurden aber von dem Betroffenen als faktisch so erlebt empfunden.
Sie notierte sich das und nahm einen Schluck. Natürlich war der Kaffee kalt. Sie ließ den Kuchen unangetastet und begab sich zu Elisas Zimmer. Sie war unruhig. Irgendetwas stimmte nicht. Eventuell war es ihre Ungeduld, aber ihr Gefühl sagte etwas anderes. Sie sollte nach Hause fahren, sich ein Glas Rotwein mit Matthias gönnen und sich richtig ausschlafen. Zaghaft klopfte sie an und betrat den Raum.
Elisa saß wie versteinert auf ihrem Bett.
Du lieber Himmel! Sie hatte die Hypnose nicht vertragen. Der Schreck fuhr Sibylle tief in die Glieder, doch dann glitt ihr Blick zu Elisas Füßen. Jemand hatte einen weiteren Umschlag unter der Tür hindurchgeschoben. Sibylle hob ihn auf und wartete auf Elisas Reaktion. Als sie nichts sagte, fischte sie mit zwei Fingern behände ein Blatt heraus. Es schien wie das erste ein Computer-Ausdruck zu sein und handelte sich um die Fortsetzung. Es ging um ein ihr unbekanntes Mädchen, das den Schreiber des Briefes dringend gebraucht hätte, welcher aber zu dem Zeitpunkt und auch später nicht für sie da war.
Sibylle schüttelte den Kopf. Das passte nicht in ihr Bild. Warum erzählte Elisa in der Hypnose nur von ihrem Vater und nicht von ihrer Mutter? Warum stand in dem Brief, dass der Vater nicht für seine Tochter da war? Elisa hatte anscheinend ein inniges Verhältnis zu ihm. Sollte sie mit ihrem Verdacht auf das False-Memory-Syndrom richtig liegen? Oder waren diese Zeilen eventuell nicht für Elisa bestimmt? Hieß ihre Elisa gar nicht Elisa? Warum reagierte sie dann so intensiv auf den Brief?
Sibylle strich der jungen Frau, die sich wie ein Fötus auf ihrem Bett zusammengerollt und sich innerlich zurückgezogen hatte, über das Haar. Sie wartete noch einen Moment, ging schweren Herzens zur Tür und zog sie vorsichtig hinter sich zu.
22.
Friedhof Gsteig-Interlaken
Interlaken, Schweiz
9. Januar 1975
B enni wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Die Gedanken an seinen Vater gingen ihm nicht aus dem Kopf. Er stand am frisch verschlossenen Familiengrab der von Felthens, neben sich Ahriman, dessen Hand er in seiner Rechten hielt. Die Tränen begannen erneut in Strömen zu fließen, als er auf die unter einem Blumenmeer fast verdeckten Grabsteine blickte.
Constanze von Felthen
geb. Schwarzhaupt
27.09.1921 – 24.12.1974
Petra von Felthen
geb. Singer
16.01.1948 – 25.12.1974
»Warum nur …«, flüsterte er und spürte, wie Ahriman Trost spendend seine Hand drückte. Die Ereignisse der letzten Wochen bahnten sich ihren Weg zurück in seine Gedanken. Nachdem die Staatsanwaltschaft die Leiche seiner Mutter nach der Obduktion freigegeben hatte, musste Benni sich um alle Formalitäten kümmern. Er organisierte das Begräbnis ohne anschließende Trauerfeier und schaffte es, den Termin vor der verständlicherweise neugierigen Allgemeinheit geheim zu halten. Die Bevölkerungen von Thun, Interlaken und den umliegenden Dörfern brachten der Familie von Felthen ungeheure Anteilnahme entgegen, forderten aber auch Informationen. Nur Ahriman gab Benni ein wenig Halt in diesen Tagen. Arno war nicht ansprechbar, er verbrachte Stunde um Stunde am Krankenbett von Lena, die noch immer im Wachkoma lag. Obwohl Arno dem Tod fast näher schien als Lena, ließ er sich nicht eine Sekunde von seinem Kind fortführen. Mit eingefallenen Wangen und schwarzen Schatten unter den Augen saß er an ihrem Bett, die meiste Zeit leise betend. Benni kam die Aufgabe zu, sich um Lisa zu kümmern. Zwar unterstützten ihn Kathy und das übrige Personal nach Kräften, aber als einzige familiäre Bezugsperson klammerte sich Lisa an ihn, weil ihr Vater für sie genauso wenig erreichbar war wie für jeden anderen. Ein Psychologe stand allen Betroffenen rund um die Uhr zur Verfügung. Die Ermittlungen der Kriminalpolizei liefen auf Hochtouren. Man hatte von
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