Satans Erbe (German Edition)
sie hatte sich getäuscht. Anfangs lud man sie zu den Siedlungstreffen ein und sie ging gern hin, wenn es ihre Zeit erlaubte. Aber nachdem auch die letzte Mutter verstand, dass Sibylle, obwohl sie keinerlei Beschwerden hatte, kein Kind zur Welt bringen wollte, waren die Einladungen eingeschlafen. Die Siedlung schloss sie aus, jedenfalls kam es ihr so vor.
»Pah! Ihr könnt mich mal.«
»Guten Morgen, Frau Bachmann.«
»Oh, ich meinte nicht Sie. Guten Morgen, Frau …« Der Name ihrer Nachbarin war ihr wieder einmal entfallen, und obwohl sie leicht gekränkt war, dass diese aufgedunsene Mami ihren Titel unterschlagen hatte, lächelte sie entschuldigend und stieg in den Wagen.
»Sie arbeiten sonntags?«
Was für eine dämliche Frage. Als wenn die Nachbarn das in all der Zeit noch nicht mitbekommen hätten.
»Sicher. Auch sonntags gibt es kranke Kinder. Entschuldigen Sie mich bitte.« Sibylle knallte die Tür zu und warf den Rückwärtsgang ein. Ihre Nachbarin, Frau Bennkensecker – der Name fiel ihr jetzt natürlich ein, wo es zu spät war, doch dieses Mal war es ihr wirklich egal – sprang förmlich aus der Garage und brachte sich vor dem brüllenden Benz in Sicherheit.
Sibylle lächelte nochmals ordentlich, dann brauste sie ein wenig zu schnell für die verkehrsberuhigte Zone vom Garagenhof. Kaum ließ nach ein paar Metern der erste Dreißigstundenkilometer-Hubbel das Fahrgestell ächzen, verlangsamte sie schuldbewusst. Es gab nichts Schlimmeres als Autounfälle mit Kindern.
Mit 14 hatte sie ein Berufspraktikum bei einer Freundin der Familie gemacht. Ihre Vorgesetzte war Allgemeinärztin und nahm sich viel Zeit für Sibylle. Eines Nachmittags gab es einen fürchterlichen Unfall auf der Straße vor der Praxis, gleich drei Autos waren ineinander verkeilt. Die Belegschaft rannte auf die Fahrbahn, um zu helfen. Zwei der Fahrer schienen unversehrt. Aus dem dritten Fahrzeug bargen sie einen jungen Mann mit schweren Schnittverletzungen. Seine Frau verblutete auf dem Beifahrersitz und die dreijährige Tochter lag in unnatürlicher Verrenkung einige Meter vor der zerstörten Windschutzscheibe. Die Ärztin konnte nur noch ihren Tod feststellen. Der junge Mann beging kurze Zeit später Selbstmord, was von der Presse gnadenlos ausgeschlachtet wurde.
Dieses Erlebnis war ein weiterer Schock für Sibylle, aber auch ein Antrieb. Sie wollte Ärztin werden, sich spezialisieren und gebrochene Seelen heilen. Sie brach alle Freizeitaktivitäten ab, sogar ihren geliebten Reitsport und ihre freiwilligen Stunden beim Tierarzt. Sie brachte ihren Notendurchschnitt bis zum Abitur auf 1,2 – ihr stand nichts mehr im Wege.
Sibylle stieg auf die Bremse, der Wagen rutschte, das ABS griff, und stotterte das Fahrzeug sanft zum Stehen. Sie umklammerte das Lenkrad. Der Scheibenwischer ging nach rechts und nach links, nach rechts und nach links. Ihre Schläfen pochten. Sie zuckte zusammen, als jemand an ihr Fenster klopfte, drückte den automatischen Fensterheber, noch ehe ihr bewusst wurde, dass dies auch ein abgekartetes Spiel sein konnte, eine Entführung, ein Raubüberfall …
»Geht es Ihnen gut? Hallo?«
»Was ist passiert?«
»Ich bekam grün und fuhr los. Es ging so schnell … ich hatte doch grün, oder?«
Sibylle sah den Mann zum ersten Mal an, er war bestimmt über siebzig. Innerlich bekreuzigte sie sich, schwor, ab jetzt noch aufmerksamer zu sein und stieg aus. Sie einigten sich, dass sie beide bei Gelb gefahren waren. Zum Glück war nichts passiert. Sie spürte, dass der alte Mann gern weiter mit ihr geplaudert hätte und ihre Gewissheit stieg, dass sie nicht an dem Beinahe-Unfall schuld war. Er war einsam. Sibylle schüttelte den Kopf, entschuldigte sich – das wievielte Mal heute eigentlich? – und setzte ihren Weg fort. Der Schreck saß ihr noch gehörig in den Gliedern.
Als sie beim Rückwärtsparken mit ihrer feuchten Schuhsohle von der Bremse rutschte und sich fast eine Beule in die Stoßstange fuhr, war das Maß für heute voll. Sie schloss die Augen und lehnte ihren Kopf an die Stütze. Wenn dieser Tag so weiterging, brauchte sie wirklich Urlaub.
Sibylle ließ die Bürotür ins Schloss fallen und hängte den triefnassen Mantel auf. Sie sank vor ihrem Eckschreibtisch auf die Knie und kramte eine Weile darunter in den hintersten Ecken, bis sie eine volle Flasche Wodka in den Händen hielt. Wusste sie es doch. Nach irgendeiner Weihnachtsfete war sie übrig geblieben. Das musste Jahre her sein. Umständlich
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