Saturn. Schwarze Bilder der Familie Goya: Roman (German Edition)
ich mich an gar nichts oder fast nichts. Ich weiß, dass Mariano klein war, aber ich erinnere mich weder an sein Weinen noch an sein Gesicht, nur an lange, leere Tage, die einfach vergingen. Ich stand auf, zog die Kleider an, die das Dienstmädchen bereitgelegt hatte, denn sie selbst auszusuchen – so viele Entscheidungen zu treffen, wäre ich an einem Tag nicht imstande gewesen; ich aß – ohne Appetit, aber auch, ohne dass es mir unangenehm gewesen wäre, so wie ich mich wusch oder mir die Schuhe anzog: eine der vielen Tätigkeiten, die man im Laufe des Tages von der Spalte »zu erledigen« in die Spalte »erledigt« überführen muss.
Gumersinda sah ich hin und wieder. Und ich sah, wie sie sich veränderte – langsamer als das Kind … Ja, eigenartig, dass ich mich an die Geschwindigkeit erinnere, mit der es sich vom Neugeborenen zum Säugling, vom Säugling zum Kleinkind, vom Kleinkind in den Jungen und so weiter verwandelte, aber nicht an seine verschiedenen Gesichter, mit Ausnahme vielleicht dieses erstarrten Gesichts, das ich von dem Porträt kenne und das mir jetzt als das wahre Gesicht all der Jahre erscheint; Gumersinda veränderte sich langsamer, aber ebenso unwiderruflich, ähnlich wie ich. Ihr Mund verlor seine rosa Farbe, das Gesicht die jugendliche Frische – ja, ich weiß, der Vergleich mit der Blume drängt sich auf, aber ich möchte ihn lieber vermeiden; so tief wollen wir nicht sinken; die Schenkel schwollen, wurden breiter und weicher, wie ein auf dem Backbrett aufgehender Teig, den man mit einem Tuch bedeckt, damit er nicht austrocknet. Ich könnte nicht sagen, dass dieser Anblick meinen Abscheu weckte. Aber ich brauchte ihn auch nicht.
Manchmal hatte ich den Eindruck, dass sie nichts begreift und unschuldig ist. Ein andermal wieder, dass sie genau Bescheid weiß und sich nur den Anschein der Unschuld gibt; an solchen Tagen wollte ich sie nicht ansehen. Ich konnte das nicht entscheiden, ich wollte es nicht entscheiden.
Mutter wurde allmählich zu einer alten Frau. Sie erzählte viele Male die gleichen Geschichten, hatte größere Mühe, die Treppe hinaufzusteigen als früher, wollte immer seltener mit dem Dienstmädchen zum Markt gehen und uns Melonen oder gerupfte Gänse holen. Vater erlangte Ruhm; schon lange hatte er ein großes Porträt der Königsfamilie gemalt – und all die anderen gewollten und nicht gewollten Verwandten des Königs: den Geliebten der Königin, den fetten Wurstmacher Godoy, natürlich als Friedensfürsten, der sich auf dem Schlachtfeld im Pomeranzenkrieg aalt, seine unglückliche Frau, die blasse Gräfin von Chinchón, aber auch – zum Ausgleich – seine Geliebte, Pepita Tudo, und das gleich zweimal: einmal angezogen und einmal nackt, so dass sich mit einer bestimmten Vorrichtung ein Bild verschieben ließ und das andere zum Vorschein brachte und Godoy seine Fee auf fast magische Weise ausziehen konnte, sooft er Lust dazu hatte …
Das alles interessierte mich nicht.
Francisco spricht
Als der Wurstmacher den Stierkampf verbot, sagte ich, ich würde mein ganzes Geld, das ich von ihm bekommen habe, bis auf den letzten Maravedi, dafür geben, dass er jedes Mal, wenn er die nackte Pepita sieht, keinen mehr hochkriegt … Wie habe ich mich gefreut, als die Aufständischen das Ende seiner Regierung ausriefen und er dann anderthalb Tage wie eine fette Ratte in einem Stapel alter Teppiche saß, ohne einen Tropfen Wasser, nur mit einem Stück Brot, das er vom gedeckten Tisch geklaut hatte!
Damals wusste ich nicht, dass das erst der Anfang war.
Javier spricht
Natürlich kann ich mich erinnern, dass schon wenige Jahre nach meiner Hochzeit die Aufstände begannen, dass sich der Thronfolger gegen meine Eltern wandte und Godoy fliehen musste, dass die Franzosen in die Stadt einmarschierten … Aber das alles interessierte mich nicht. Ich stand auf, wusch mich, zog mich an, aß, ging spazieren, kam zurück, legte mich schlafen. Mein eigentliches Leben spielte sich restlos in den Büchern ab. Dort erlebte ich unzählige Abenteuer, ließ mich ergreifen, verliebte mich und litt, dort durchschwamm ich Ozeane und kämpfte gegen Hexenmeister, eroberte Festungen und weinte über das Schicksal der unglücklichen Frauen in sarazenischer Gefangenschaft. Daran habe ich lebhafte Erinnerungen. Außerhalb der Bücher jedoch war vollkommene Leere: All die Tage erscheinen mir wie ein einziger, langweiliger Tag.
Vater dagegen war in seinem Element. Er lief durch die Stadt, auf der Suche
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