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Saturn. Schwarze Bilder der Familie Goya: Roman (German Edition)

Saturn. Schwarze Bilder der Familie Goya: Roman (German Edition)

Titel: Saturn. Schwarze Bilder der Familie Goya: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jacek Dehnel
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nach allen möglichen Scheußlichkeiten, stopfte sich das alles in die Augen, in den Kopf, wie der Bettler sich das Essen in den zahnlosen Mund stopft: schnell, hungrig, gierig, in der Angst, dass jemand es ihm wegnehmen könnte; sogar nach Saragossa fuhr er, um danach aufgeschlitzte Häuser und aufgeschlitzte Frauen in Kupfer zu stechen, und diese eine, Agustina, die über die Leichen der Verteidiger, unter denen auch ihr Geliebter lag, auf die Bastion stieg und die Lunte der Kanone zündete; er malte ein Porträt von ihr – und als die Franzosen und Polen in die Stadt einmarschierten, zerschnitten sie es mit den Säbeln, zusammen mit anderen Bildern im Quartier von General Palafox. Aber auch da schoss er aus dem Haus wie ein ausgespuckter Kern, sobald er erfuhr, dass es eine blutige Auseinandersetzung gab; am 2. Mai war er untröstlich, dass er zu spät die Puerta del Sol erreichte und nichts mehr zu sehen bekam außer einem bedeutungslosen Gefecht unweit unseres Hauses; aber am 3. Mai rannte er in der Nacht, in einen Poncho gehüllt, mit einer Laterne zum Ort der Erschießungen und zeichnete auf der Stelle die Leichen, sozusagen noch warm. Mir erschien das peinlich und niederträchtig, als hätte er sich nur dorthin geschleppt, um seine Augen an dem Blut zu weiden, an den Exkrementen, die aus den Bäuchen quollen, und dem Gestank der frischen Leichen. Ich dagegen suchte mir Dinge aus, die mir angenehm schienen fürs Auge: Soldaten, unsere oder fremde, die zu zweit oder zu dritt am Tor standen, saubere Uniformen, gezwirbelte Schnurrbärte. Nicht, dass es mir an Patriotismus gemangelt hätte – ich liebte Spanien von ganzem Herzen und hasste von ganzem Herzen die Franzosen; aber was haben in der Sonne glänzende Uniformen damit zu tun? Ja, mein erstes richtiges Bild entsprang eben dieser Erregung, dieser Exaltiertheit, einem patriotischen Gedicht, das ich eines Nachmittags in einem kleinen Büchlein mit grün marmoriertem Umschlag las. Die Prophezeiung der Pyrenäen von Juan Bautista Arriaza. Großartig.
    Seht, wie über dem Gipfel
    dieses höhlenartigen Amphitheaters,
    im leuchtenden Glanz der untergehenden Sonne
    sich ein blasser Koloss erhebt,
    dem die Pyrenäen ein bescheidener
    Sockel für seine riesigen Glieder sind.
    Und sofort sah ich es, das ganze Bild, mit allen Einzelheiten, als wäre es auf den Seiten des Büchleins erschienen: von den Rauchwolken, die den erhabenen Koloss umhüllen, über seine muskulösen Arme und den breiten Rücken bis zur panischen Flucht der französischen Armee – mit ihren Pferden, Maultieren, Wagen, Zinnsoldaten. Seit Jahren hatte mich nichts mehr begeistert, und jetzt überwältigte mich diese Vision, die sofort nach einer Aufzeichnung verlangte, dieses Bild, das nur in meinem Kopf existierte, auf einmal dermaßen, dass es mir fast den Atem raubte; ich stand auf und ging – ich weiß es noch genau – zum Fenster und wieder zurück; es trieb mich ins andere Zimmer; ich konnte keine Ruhe finden, bis ich eine große, leere Leinwand aus der Ecke gekramt hatte, für das Porträt irgendeines französischen Obersten grundiert, den Vater hatte malen sollen, der aber unterwegs in einer anderen Stadt getötet und angeblich gevierteilt worden war. Den Großteil der Leinwände – fast seine ganzen Vorräte – hatte Vater nach Saragossa gebracht und als Verbandsmaterial für die Verteidiger der Stadt gestiftet, in Madrid gab es nur noch das, was schon, wenn auch nur teilweise, bemalt worden war und nicht mehr dazu taugte, Wunden zu verbinden.
    Natürlich bewahrte ich trotz der Eile ein Mindestmaß an Contenance: Zuerst zog ich den Rock aus, hängte ihn über die Lehne eines sauberen Stuhls, nahm die Uhr aus der Westentasche und legte sie auf den Tisch, damit sie nicht herunterfallen konnte, dann zog ich die Weste aus, löste das Halstuch, krempelte die Ärmel des Hemdes hoch, gleichmäßig, damit sie nicht verknittern, und erst als ich den Kittel anhatte, stürzte ich mich in den Rausch des Malens. Durch die geschlossene Tür hörte ich, dass Gumersinda mich rief, aber ich war so hingerissen von dem, was ich in diesem jähen, dunklen Blitz gesehen, als ich das Gedicht von Arriaza gelesen hatte, dass ich – während ich eilig die Farben mischte, den düsteren Gewitterhimmel, das faulige Grün der Landschaft auftrug, die Muskeln schattierte – nicht imstande war, ihr zu antworten, zurückzurufen, ich sei im Atelier und male; später hörte ich sie werkeln, mit den Dienstmädchen

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