Saturn. Schwarze Bilder der Familie Goya: Roman (German Edition)
Meine früheren Französischstunden nützen mir gar nichts, niemand versteht mich hier, offensichtlich hat mich ein Trottel unterrichtet, denn ich weiß fast nichts mehr; aber es gibt genug Leute, mit denen ich Spanisch reden kann, manchmal habe ich den Eindruck, es gibt mehr Spanier hier als Franzosen – Juristen, Bankiers, Maler … Ich habe mich mit der armen Gräfin von Chinchón getroffen, die von Godoy weiterhin mit Pepita Tudo betrogen wird. Nach einem Vierteljahrhundert! Manche Dinge auf dieser Welt ändern sich, wie man sieht, nie. Der Wurstmacher ist durch ganz Europa gestreift, und man kann ihn jetzt in den Tuillerien oder Tüllerien sehen, wie er sich in der Sonne wärmt und die spielenden Kinder anstarrt … Angeblich schreibt er an einem Tagebuch – aber wer will schon etwas darüber lesen, wie er Fürst geworden ist, da doch sein einziges Verdienst war, seine Wurst unter den verwelkten Rock der alten Königin zu packen? Alle haben auf mich eingeredet, ich solle mir ein Bild mit einer Katastrophe auf See ansehen, gemalt von einem jungen Burschen, der übrigens kurz vor meiner Ankunft gestorben ist; aber angeblich ist es groß und dunkel, also würde ich sowieso nichts sehen, selbst wenn ich eine Brille auf die andere setzte. Außerdem sind schon genug Katastrophen auf See gemalt worden! Dafür habe ich die Arbeit eines Herrn Martín gesehen, eines unvergleichlichen Miniaturenmalers – was für wunderschöne Sachen. Er ist taub und stumm von Geburt an und damit viermal mehr geschädigt als ich, der ich nur taub bin und das auch nur die Hälfte meines Lebens. Ich hielt mir die dünnen Täfelchen aus Elfenbein direkt unter die Nase und dachte: He, Paco, wenn du viermal mehr geschädigt wärst, würdest du dich nicht auch vor einer großen Leinwand fürchten? Meine karierte Mütze ist ihm aufgefallen, überhaupt hat man sich in Paris sehr über sie gewundert, ich weiß gar nicht warum. Eine ganz normale Mütze.
All das ist gar nicht der Erinnerung wert, was zählt, ist das Hier und Jetzt: der Augenblick, in dem ich zum ersten Mal seit vielen Monaten Leocadia wiedersah, die unbändigen Locken, die vor ihr nur eine Frau auf der Welt hatte! Und mein Marienkäferchen, das Haus in Bordeaux, die Ruhe nach diesen Monaten der Ungewissheit; an der Grenze dachte ich, ich mach mir in die Hosen, ich sah mich schon in dem großen Gerichtssaal, die Hände gefesselt, auf dem Kopf die spitze Coroza , auf der all meine Sünden, selbst die geheimsten, aufgeführt sind … Und jetzt? Wenn es gutgeht, werde ich neunundneunzig Jahre, wie Tizian – bin gespannt, ob es mir gelingt, ihn zu übertreffen?
Javier spricht
Ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich ihn hier behalten oder so weit wie möglich weghaben wollte – zehnmal wollte ich zur Polizei und melden, dass er sich bei Pater Duaso versteckt, dass er nach Frankreich fliehen will, obwohl er doch im Dienst des Königs bleiben wird, dass er eine Geliebte hat, deren Sohn, sicherlich ein Bastard, in einer Abteilung der Aufständischen gedient hat – und zehnmal bin ich wieder nach Hause gegangen. Na ja, vielleicht eher zweimal.
Dann wirst du – dachte ich mir – ganz allein sein. Mit Gumersinda, mit Mariano, aber doch allein, ganz allein, endlich ohne diesen Ballast, ohne diesen Esel, den ich, zusammengekrümmt, Tag für Tag, Nacht für Nacht auf den Schultern tragen muss. Ich legte mich mit dem Gefühl nahender Freiheit schlafen – und gegen Morgen erwachte ich schweißgebadet, weil ich geträumt hatte, vier Banditen oder Soldaten hätten die Kutsche ausgeraubt und alle Passagiere ermordet. In jedem Traum kam er anders um, aber immer gleich schrecklich.
Bis er mir eines Tages selbst sagte, er habe jetzt endgültig die Erlaubnis bekommen und wolle demnächst abreisen. »Sehr gut«, sagte ich, »uns allen wird ein wenig Ruhe guttun.«
XIX
Leocadia
Eine verdeckt die andere, wie im Geheimkabinett von Godoy, wo die angezogene Maja , von einem Zahnradsystem geführt, verschwand, um die nackte Maja zu enthüllen – Pepita Tudo mit einem Bauch wie eine Pflaume, von einer langen Vertiefung durchschnitten, und ihrem nach außen schielenden Busen, bei dem beide Brüste fast unter die Achseln fielen; hier jedoch gibt es keinen Mechanismus, ein Bild ist mit dem anderen verwachsen, so eng verbunden, dass nichts die beiden trennt.
Die erste ist unsichtbar: An den Marmorkamin gelehnt, steht sie da, heiter, eine Haarsträhne um den Finger wickelnd. Vielleicht hat sie mit
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