Satzfetzen: Kriminalroman: Ein Zürich-Krimi
gern selbstständig arbeiteten, war sie eine ideale Vorgesetzte, aber Entscheidungen von ihr zu verlangen, war nie eine gute Idee.
Es waren nicht mehr viele Leute unterwegs in der Altstadt. Ein paar Meter neben Lina stand ein Paar vor einem Schaufenster, die Frau im Pelz, obwohl es noch gar nicht so kühl war. Wahrscheinlich Touristen, die im Baur au Lac abgestiegen waren.
Plötzlich nahm Lina im Schaufenster, das ein undeutliches Spiegelbild zurückwarf, eine Bewegung hinter sich wahr, dann erhielt sie einen heftigen Schlag. Sie taumelte, spürte, wie ihr die Tasche entrissen wurde. »Halt!«, schrie sie. Sie drehte sich um, aber sah nur noch, wie eine schmale Gestalt in Jeans, schwarzer Jacke und Mütze davonspurtete. Das Ganze hatte nicht mehr als ein paar Sekunden gedauert. Linas Schulter schmerzte und sie fasste sich an die Stirn. Sie war mit dem Kopf an die Scheibe gedonnert, fühlte schon die Beule, die sich bildete. Sie zitterte. Das Touristenpaar war immer noch da, wandte sich aber zum Gehen.
»Hallo«, rief Lina, »haben Sie den Dieb gesehen? Warten Sie doch. Ich bin beraubt worden.«
Der Mann drehte sich um und sagte in gebrochenem Deutsch: »Wir nichts gesehen. Wir Touristen. In der Schweiz viele Drogen. Mit das wir haben nicht zu tun. Komm, Flavia.« Sie entfernten sich rasch.
Lina blieb stehen, unfähig, vernünftig zu denken. Plötzlich bekam sie Angst. Bloß weg aus dieser dunklen, unbelebten Gasse, schnell zum Paradeplatz, wo es Menschen gab und Licht. Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie rannte. Am Paradeplatz setzte sie sich erst mal auf eine Bank. Hier schien alles ganz normal. Ein Elfer fuhr ab, in Richtung Bellevue. Ein Dreizehner bog ein. Leute stiegen aus, andere warteten auf den Achter oder den Zweier. Das Touristenpaar war nirgends zu sehen. Vermutlich erholen sie sich in der Savoy Bar bei einem Cüpli von der schockierenden Konfrontation mit der Zürcher Gewaltkriminalität, dachte Lina wütend. Sie versuchte sich zu sammeln. Alles war weg. Geld, Ausweise, Handy, Skizzenblock. Nur die Schlüssel hatte sie noch, die trug sie in der Jeanstasche. Ich muss die Karten sperren lassen, dachte sie, aber ich habe die Telefonnummern nicht dabei und das Telefon ist auch weg. Ich muss Anzeige erstatten. Langsam, mit weichen Knien, ging sie in Richtung Urania, der Hauptwache der Stadtpolizei. Plötzlich blieb sie stehen. Die Mappe mit den 7000 Franken. Das hatte sie in den letzten zehn Minuten völlig vergessen. Konnte das mit dem Überfall zu tun haben? Sollte sie davon bei der Polizei etwas sagen? Sie entschied sich dagegen. Es wäre zu kompliziert, auch noch diese Geschichte aufzutischen.
Sie betrat das Polizeigebäude, wandte sich an den Schalter, der besetzt war, setzte zu einer Erklärung an und merkte beschämt, wie sehr sie zitterte.
»Meine Tasche ist«, begann sie und musste abbrechen, weil ihr plötzlich die Tränen kamen.
»Sind Sie überfallen worden?«, fragte der Beamte und musterte sie.
Lina fasste sich an den Kopf und spürte die Schwellung an ihrer Stirn. Sie nickte und schluckte. Sie kämpfte die Tränen nieder, beschimpfte sich innerlich: Lina, du legst hier keine Heulszene hin, reiß dich gefälligst zusammen, und dann gelang es ihr einigermaßen, geleitet von Fragen des Polizisten, den Tathergang zu schildern und ihre Tasche zu beschreiben.
Große Hoffnungen machte ihr der Beamte nicht. »Gut möglich, dass wir die Tasche finden, aber wahrscheinlich leer«, bedauerte er.
Er nahm das Protokoll auf, das Lina unterschrieb.
»Möchten Sie jemanden anrufen?«, bot er an.
Sie schüttelte den Kopf und ging. Dann stand sie wieder draußen, es war gegen 22.30 Uhr, ohne Geld, ohne Tramabo. Wie sollte sie nach Hause kommen? Hätte sie doch Valerie anrufen sollen? Nein, sie wollte jetzt gar nicht erzählen. Am liebsten hätte sie sich in ein Taxi gesetzt, aber dann würde sie vermutlich in Kürze wieder hier landen, abgegeben von einem empörten Taxifahrer wegen Nichtbezahlen der Fahrt. Laufen wollte sie auf keinen Fall, also kam nur Schwarzfahren infrage. Sie war plötzlich todmüde.
Carlo Freuler schaute in den Garten hinaus. Das Licht in seinem Arbeitszimmer hatte er gelöscht. Das schon fast blattlose Geäst des Apfelbaums hob sich schwarz ab vom durch das Mondlicht etwas helleren Himmel. Kälte strömte ins Zimmer. Angenehme Frische. Von der nahe gelegenen Kirche schlug es 23 Uhr. Zeit hinunterzugehen. Ingrid saß sicher noch im Wohnzimmer und wartete auf ihn. Er
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