Satzfetzen: Kriminalroman: Ein Zürich-Krimi
nicht verstehen, was sie an diesem Beruf fand. Fremden Leuten, die Angst hatten, im Mund herumzufingern, konnte doch keinen Spaß machen. Aber sie war halt ein praktischer Mensch. Und Carlo hatte Verstand genug, um zu sehen, dass die ganze Familie, vielleicht vor allem er selbst, von ihrem Sinn fürs Praktische lebte. Nicht nur finanziell. Sie managte die Familie, organisierte den Haushalt, die Ferien, das diffizile Beziehungsleben zwischen den heranwachsenden Söhnen und einem Vater, der sich die meiste Zeit hinter eine Mansardentür zurückzog.
Die Wohnungstür ging auf. Patrick kam herein. Er schwankte leicht, offenbar war er mit seinen Freunden Bier trinken gegangen.
Er machte eine ironische kleine Verbeugung vor seinem Vater.
»Oh, der große Dichter ist von den höheren Gefilden in die Niedrigkeiten der guten Stube herabgestiegen.«
»Was fällt dir ein?«, rief Carlo.
»Patrick, bitte«, sagte gleichzeitig Ingrid.
Patrick grinste. »Easy. Bei welchem Kapitel bist du jetzt? Beim 487.?«
»Hör auf«, mahnte Ingrid, ärgerlich werdend.
»War nur ein kleiner Scherz, schlaft gut.« Patrick verzog sich.
Carlo starrte vor sich hin.
»Reg dich nicht auf«, Ingrid strich ihm übers dünn gewordene Haar. »Patrick ist ein Naturwissenschaftler. Er interessiert sich nun mal nicht für Literatur. Das musst du akzeptieren. Die beiden Jungs sind erwachsen, wir sind nicht mehr die großen, bewunderten Eltern.«
Carlo schwieg.
»Schau, du hast vor ein paar Tagen eine abfällige Bemerkung über sein Chemiestudium gemacht. Das war jetzt halt die Retourkutsche. Nimm es nicht zu ernst. Komm, gehen wir zu Bett.«
Irgendwann, dachte Carlo, wird mein Roman in den Buchhandlungen ausliegen. Er wusste, was die Rezensenten schreiben würden: »Beeindruckendes Zeitbild … überraschend neuer Blick auf die Gesellschaft des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts …« Ingrid würde es nicht verstehen, sein Buch, auch wenn sie sich auf fürsorgliche Weise darüber freuen würde; seine Söhne auch nicht, und das ganze tumbe Politikerpack im Kantonsrat erst recht nicht. Obwohl es denen gut tun würde, mal über den eigenen Tellerrand zu schauen.
Dienstag
Es war gegen 9.30 Uhr, als Lina Kováts ins Büro kam. Wie jeden Morgen ärgerte sie sich eine Sekunde lang über das Schild ›Kaspar Escher-Haus‹. ›Kaspar-Escher-Haus‹ müsste es heißen. Mit einem Bindestrich zwischen Kaspar und Escher. Sie hatte schlecht geschlafen.
Statt gleich ins Bett zu gehen, hatte sie herumtelefonieren und Karten sperren lassen müssen. Zu müde, um zu reden, hatte sie Hannes und Valerie ein Mail geschickt, dass sie über ihre Handynummer nicht mehr erreichbar sei. Dann hatte sie eine ganze Weile im Spiegel auf ihr zerbeultes Gesicht gestarrt. Die gerötete Schwellung an der Stirn verfärbte sich schon langsam ins Violette. Morgen wird man mich für eine Frau halten, die von ihrem Typen verprügelt wurde, dachte sie missmutig. Im Bett lag sie eine Weile wach, versuchte über den Tag nachzudenken, zusammenzukriegen, was alles geschehen war und wie es zusammenhängen könnte. Aber sie kam nicht weit, bald übernahmen unordentliche Träume die Regie.
Am Morgen versuchte sie zu bilanzieren: Geld hatte sie nicht viel bei sich gehabt, Ausweise und Lippenstift ließen sich wieder beschaffen, ein neues Handy ebenfalls, die Telefonnummern hatte sie auf dem Computer gespeichert. Kalender würde sie ohnehin bald einen neuen brauchen, es war ja November. Das kleine Skizzenbuch, in dem sie gestern Morgen Ruth Noser verewigt hatte, war eines von mehreren, die sie besaß. Und doch fühlte sie sich im Moment wie, ja, wie obdachlos. Die alte Tasche, die sie jetzt bei sich hatte, das Portemonnaie, das sie sonst nur in den Ferien brauchte, das war wie eine Notunterkunft. Sie wunderte sich, dass der Verlust einer Handtasche ihre Existenz so sehr ins Provisorische kippen konnte. Aber es war mehr als das. Etwas war durch den Überfall zu Bruch gegangen, die selbstverständliche Sicherheit, mit der sie sich auch nachts in der Stadt bewegt hatte. Sie war oft spätabends noch unterwegs, auch zu Fuß, etwa wenn sie aus ihrem Atelier in der Roten Fabrik nach Hause ging. Zwei-, dreimal pro Woche fuhr sie gleich nach der Arbeit nach Wollishofen hinaus, kaufte sich unterwegs ein Sandwich, das sie irgendwann abends aß. Sie malte bis 23 oder 24 Uhr, mit ausgeschaltetem Handy und ohne mit jemandem zu reden, völlig auf ihre Arbeit konzentriert, und brauchte dann den
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