Satzfetzen: Kriminalroman: Ein Zürich-Krimi
schloss das Fenster und machte das Licht an. Das Mansardenzimmer war klein, kaum zehn Quadratmeter. Abgeschrägte Wände. Auf dem Fußboden ein verblichener Teppich. Niedrige hölzerne Bücherregale standen an den Wänden, vor dem Fenster sein Schreibtisch, übersät mit Notizzetteln. In der Mitte ein Computer, kein flacher Laptop, sondern ein massiges, sperriges Ding der vorletzten Generation. Diese wenigen Quadratmeter waren sein Reich. Hier war er wirklich zu Hause. Unten in der Wohnung fühlte er sich eher wie ein Besucher. Sicher, Ingrid, seine Frau, war dort. Aber auch seine Söhne, Fabian und Patrick, die ihm eigentlich fremd waren, gingen ein und aus, hörten Musik, die ihm nicht gefiel, brachten Freunde und Freundinnen mit, von denen er sich gestört fühlte. Als sie klein waren, hatte er sie als unverständliche Wesen empfunden. Kinderspiele langweilten ihn und später war er weiß Gott nicht der Vater gewesen, der ihnen beibringen konnte, Fußball zu spielen. Später, wenn sie größer sind, werde ich mit ihnen Gespräche führen können, hatte er gedacht. Aber bis jetzt war es nicht so gekommen. Der Ältere interessierte sich für Naturwissenschaften, der Jüngere vor allem für Sport. Carlo bezweifelte, dass sie in ihrer Freizeit Bücher lasen.
In die Mansarde hinauf kam niemand außer ihm. Er berührte das dünne Bündel Papier, das er frisch ausgedruckt hatte. Zwei Seiten hatte er in den letzten drei Stunden überarbeitet, eine halbe neu geschrieben. Er arbeitete langsam. Er hatte keine Eile. Irgendwann würde sein Roman fertig sein. Irgendwann würde er sein Buch in den Händen halten. Es würde in den Buchhandlungen ausliegen, von den Feuilletons der bedeutenden Zeitungen rezensiert werden.
Carlo ging hinunter. Ingrid lag im Wohnzimmer auf dem hellen Ledersofa. Das Licht war gedimmt. Die Einrichtung war modern, etwas kühl, viel Glas, wenig Holz. Sie war so, wie es Ingrid gefiel. Carlo überließ derlei Dinge am liebsten ihr, wollte gar nicht damit behelligt werden. Aber manchmal ging ihm doch durch den Kopf, ob seine Passivität nicht ein Fehler war, ob es nicht auch damit zusammenhing, dass er sich am Rand der Familie aufhielt. Hätte er es sich anders gewünscht? Carlo hätte es nicht sagen können. Es war einfach passiert, im Laufe der Jahre, und eine Wende in seinem Leben würde erst möglich sein, wenn sein Roman erschienen war, davon war er überzeugt. Als Ingrid ihn eintreten sah, legte sie ihr Buch weg, streifte die Kopfhörer ab und schaltete den CD-Player aus.
»Na«, fragte sie, »fühlst du dich besser?«
Er lächelte ihr zu. Nickte. Beim Abendessen war er missmutig gewesen, von einer gereizten Schweigsamkeit wie oft an den Tagen, an denen er für den Kantonsrat arbeitete. Er hatte wegen einer Nichtigkeit Fabian angefahren, der daraufhin unter Protest den Familientisch vorzeitig verlassen hatte. Ja, Carlo fühlte sich jetzt besser. Das Schreiben, die Stunden allein in seiner Mansarde machten ihn ruhig.
»Magst du auch ein Glas Wein?« Ingrid deutete auf die Flasche, Carlo holte sich ein Glas. Wenn man Ingrid gefragt hätte, ob sie ihren Mann liebte, hätte sie zweifellos mit Ja geantwortet. Carlo gehörte zu ihrem Leben, zu ihrer Familie, sie war froh, wenn es ihm gut ging. Aber sie wäre mit ihrem Leben ebenso klargekommen, wenn Carlo nicht da gewesen wäre. Das war ihr bewusst. Manchmal fragte sie sich, ob Carlo das ahnte. Vielleicht kränkte es ihn, aber sie konnte es nicht ändern. Sie wusste auch, dass er ohne sie schlecht zurechtkommen würde. Das war ein großes Ungleichgewicht, aber es war eben so. Besser, man sprach nicht darüber. Natürlich merkten das auch Fabian und Patrick, und Takt und Feingefühl in Bezug auf die Eltern waren nicht gerade die Stärken von Heranwachsenden.
»Sind die beiden da?«, fragte er, auf die Türen zu den Zimmern von Fabian und Patrick deutend.
»Fabian ist schon zu Bett gegangen«, sagte Ingrid. Sie verschwieg, dass seine Freundin bei ihm war. »Patrick ist noch mit Freunden unterwegs.« Fabian war 17 und ging ins Gymnasium, Patrick 19 und studierte Chemie an der ETH. »Du warst schon ziemlich schlecht gelaunt«, fügte sie hinzu. So aufbrausend Carlo war, von seiner Frau ließ er sich das sagen.
»Ich bewundere dich, wie ruhig du immer bleiben kannst«, meinte er seufzend.
Sie lachte. »Ich tobe mich eben tagsüber aus. Quäle meine Patienten.«
Ingrid war Zahnärztin und führte eine Praxis an der Löwenstraße. Eigentlich konnte Carlo
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