Satzfetzen: Kriminalroman: Ein Zürich-Krimi
steigt von der Gessnerbrücke ein paar Stufen hinunter und findet sich auf einem idyllischen Spazierweg, links das Wasser, rechts Bäume und Holzbänke, auf denen im Sommer Leute lesen oder picknicken, den Vögeln Brosamen hinwerfen und wo Liebespaare sich küssen. Ganz nahe beim lauten, hektischen Stadtzentrum eine Oase, die aus der Stadt herausgefallen zu sein scheint, ein fast verwunschener Ort. An einem frühen Novembermorgen war der Ort keine Idylle. Es war noch dunkel. Streiff beugte sich zu dem regungslosen dunklen Bündel Mensch hinunter. Tot, kein Zweifel. Eine Frau. Kurze dunkle, leicht gewellte Haare, eher klein, trug einen wadenlangen Rock und eine taillenlange Daunenjacke. Ein früher Jogger hatte morgens um 5.30 Uhr die Leiche gefunden und die Polizei angerufen. Der Notarzt hatte nur noch ihren Tod feststellen können. Die beiden Polizeibeamten, die hergefahren waren, hatten protokolliert, dass sie eine Stichwunde im Rücken hatte. Also kein natürlicher Tod, kein Unfall, kein Suizid. Und so stand jetzt gegen 6.30 Uhr Streiff da. Einige Stunden vorher war er mit Valerie kaum 200 Meter entfernt an der Stelle vorbeigegangen. Ob die Frau da schon tot gewesen war? Streiff drehte den leblosen Körper, er wollte das Gesicht sehen. Sein Blick wurde starr. Das war doch – ja, das war die Kantonsrätin Angela Legler.
Vor zwei Tagen hatte er noch mit ihr gesprochen. Verdammt, das versprach ein heikler Fall zu werden. Eine öffentliche Person, eine umstrittene Politikerin. Die Medien würden sich darauf stürzen. Der Angriff auf sie vor ein paar Tagen auf dem Kanzleiflohmarkt, die undurchsichtige Geschichte mit den 7000 Franken, von der Dürst ihm erzählt hatte, all das ging Streiff blitzschnell durch den Kopf. Ob ihr Tod etwas damit zu tun hatte? Er erhob sich. Aus einiger Entfernung hörte er Autotüren zuschlagen, Stimmen und näher kommende Schritte. Die Verstärkung rückte an, die Kollegen von der Spurensicherung und die Leute von der Rechtsmedizin. Man kannte sich, war ein eingespieltes Team. Unser Einsatz beginnt immer am Ende einer Geschichte, dachte Streiff. Der gewaltsame Tod eines Menschen ist der Schlusspunkt eines Dramas, von dem wir nichts wissen. Noch nichts wissen. Unser Job besteht darin, uns in die Vergangenheit zu wühlen, uns nicht beirren zu lassen von der verstreichenden Zeit, die in die entgegengesetzte Richtung läuft, uns weiter weg trägt vom Geschehenen. Wo waren Sie in der Nacht auf den Mittwoch, wann haben Sie die Frau zum letzten Mal gesehen, werden wir die Leute fragen. Einige werden die Wahrheit sagen, andere werden lügen, vielleicht aus dummen Gründen, oder sie werden sich ungenau erinnern.
Die Beamten sperrten den Tatort ab, wiesen Passanten weg, die auf das Geschehen aufmerksam geworden waren. Der Polizeifotograf machte Bilder von der Leiche. Mit weißer Kreide wurden die Umrisse der Toten skizziert, bevor der Körper auf eine Bahre geladen und weggetragen wurde. Im Schein von Lampen suchten die Beamten von der Spurensicherung die Umgebung ein erstes Mal ab; Messer fanden sie keines.
»Ich friere. Und ich sollte zur Arbeit.« Das war der Jogger. Streiff schaute ihn mitleidig an. Natürlich, der Mann trug nur einen Sportdress und war verschwitzt. Streiff nahm seine Personalien auf und stellte ein paar Fragen. Der Mann wusste nicht viel. Er war hier entlanggejoggt, was er jeden Montag und Mittwoch tat. Die Gestalt hatte dagelegen, zuerst hatte er geglaubt, es wäre ein Betrunkener. Er hatte sich niedergebückt und plötzlich, »ich kann nicht sagen, warum, plötzlich wusste ich, dass sie tot ist. Ich habe sie nicht berührt, aber dann merkte ich, dass an meinen Schuhen Blut war.« Da hatte er die 117 angerufen. Er war bleich. Streiff ließ den Mann gehen.
Er untersuchte die Handtasche, die bei Angela Legler gelegen hatte. Portemonnaie und Ausweise waren drin, 200 Franken, Bankkarten, alles da, nur ein Handy fehlte. Also kein Raubmord. Auch kein Sexualverbrechen. Die Frau war vollständig bekleidet, es gab auf den ersten Blick keinen Hinweis, dass der Täter etwas anderes mit ihr gemacht hatte, als ihr ein Messer in den Rücken zu stoßen. Streiff wühlte weiter in der Tasche, dann stutzte er. Kondome. Wozu hatte eine verheiratete Frau Kondome in der Handtasche?
Verheiratet. Hatte ihr Mann sie nicht vermisst? War er unterwegs? War er gewöhnt, dass seine Frau ausblieb? Es ging jetzt auf 7 Uhr zu. Zeit, Fritz Legler, den, wie Valerie gesagt hatte, Hardcore-Pfarrer
Weitere Kostenlose Bücher