Satzfetzen: Kriminalroman: Ein Zürich-Krimi
diese Attacke ist ihr Ventil. Natürlich kommt sie jetzt, wo es keine Zeugen mehr gibt. Ich zähle ja nicht. Aber da könnte sie sich täuschen.
»Und hier, Sie können nicht mal die neue deutsche Rechtschreibung. Auseinandersetzen schreibt man nicht mehr zusammen!«
»Ja, gemäß dem drittneuesten Duden«, konterte Carlo verächtlich. »Aber gemäß der neuesten Ausgabe schreibt man es wieder zusammen.« Mit fahrigen Händen griff er nach seinem Duden und blätterte. »Da!«
Legler schaute nicht mal hin. »Sie wissen, ich bin Lektorin des Ratsprotokolls und Präsidentin der Umwelt- und Verkehrskommission. Sie haben sich nach meinen Anweisungen zu richten.«
Sie stampfte hinaus und schlug die Tür hinter sich zu.
Abgang, dachte Raffaela.
Carlo schmiss den Duden auf den Boden. »Blöde Kuh!«
Er packte seinen Rucksack und eine graue Plastiktüte und verschwand, ebenfalls türenknallend.
Ende des Aktes, dachte Raffaela. Sie hob den Duden auf und legte ihn auf Carlos Pult. Dann packte sie langsam ihre Sachen zusammen. Carlo ist jetzt sicher in der Commihalle und versucht, sich bei einem Bier zu beruhigen, der arme Kerl. Ob ich vorbeigehen soll? Nein, entschied sie. Was immer jetzt abläuft, ich halte mich raus. Noch zwei Monate muss ich hier durchhalten. Kein Interesse, dass Legler mich sieht, wie ich einem Opfer ihrer Launenhaftigkeit beistehe.
Es war kurz nach 22 Uhr. Es nieselte, eine feuchte Kälte hatte sich über die Stadt gelegt. Valerie und Beat waren auf dem Heimweg. Seppli trabte neben ihnen her. Sie hatten in der Helvti gegessen und beschlossen, zusammen zu Valerie zu gehen. Sie schlenderten über die Sihlbrücke. Valerie hatte Beat während des Essens ausführlich erzählt, was Lina erlebt hatte. Das meiste kannte Streiff schon aus Dürsts Perspektive. Er hatte nicht viel dazu gesagt und Valerie hatte ihm verschwiegen, dass Lina sie gebeten hatte, Detektivin zu spielen. Es hätte ihm nicht gefallen.
Nun hängte sie sich bei ihm ein. »Stell dir vor, Lorenz hat mich tatsächlich heute angerufen«, erzählte sie. »Er will mich zum Essen einladen. Hätte ich nie gedacht, nach dieser langen Funkstille.«
»Und? Gehst du?«
»Klar, warum nicht? Nimmt mich wunder, was er so treibt im Leben.«
Beat schwieg. Der Quacksalber. Eine Radfahrerin überholte sie. Das Rücklicht ihres Velos funktioniert nicht, registrierte Streiff automatisch. Ob Valerie oft an ihn dachte? Ein Mann kam ihnen entgegen, Streiff sah sein Gesicht im Schein einer Straßenlampe, seine leicht schwankende, massige Gestalt im trotz der Kälte offenen Mantel, und hatte den Eindruck, dass er ziemlich betrunken oder auf Drogen war. Über die eine Schulter hatte er einen kleinen, prall gefüllten Rucksack gehängt. Ob sie es manchmal insgeheim bedauerte, dass Stucki und sie sich getrennt hatten?
Valerie wandte sich Beat zu. »Was ist? Gibt es ein Problem?«
Er hatte heute wieder nichts gesagt. Wie sie es wohl fände, mit ihm zusammenzuwohnen? Mit Stucki hatte sie es getan.
»Nein, natürlich nicht«, wehrte er, offenbar nicht ganz überzeugend, ab.
Valerie lachte. »Komm, mach dir keine Sorgen. Ich bin längst nicht mehr verliebt in Lorenz. Ich bin nämlich in jemand anderen verliebt. Rate, in wen?«
Beat lachte auch ein wenig. Ich Trottel, dachte er. Trotzdem sagte er: »Vielleicht ist er ja wieder in dich verliebt.«
»Gewiss nicht«, beruhigte ihn Valerie. »Aber ich finde es schön, wieder einmal mit ihm zusammenzusitzen und zu hören, wie es ihm geht. Wenn du zufällig Anikó treffen würdest, würdest du dich doch auch freuen und wärst neugierig zu erfahren, was sie so macht, oder nicht?«
Nein, dachte Beat, ich bin eigentlich gar nicht neugierig. Es ist mir komplett egal, was Anikó macht. Vermutlich therapiert sie verhaltensauffällige Kinder. Und wenn sie mir über den Weg laufen würde, würde sie mir wahrscheinlich immer noch vorwerfen, dass ich, statt Judolehrer zu bleiben, Polizist geworden bin. Ein Polizist, der dafür sorgt, dass Delinquenten bestraft werden, anstatt ihnen Verständnis entgegenzubringen und zu versuchen, die Abgründe ihrer verletzten Seelen zu erforschen. Sie gingen weiter und Beat versuchte, seine finsteren Gedanken zu verscheuchen. Aber eine aufdringliche kleine Idee ließ sich nicht ganz verbannen: Liebte er Valerie mehr als sie ihn?
Mittwoch
Streiff stand fröstelnd auf den Holzplanken des Schanzengrabens. Der Schanzengraben ist ein Fußweg, der direkt den Sihlkanal entlangführt. Man
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