Satzfetzen: Kriminalroman: Ein Zürich-Krimi
gerade noch die Kurve zu kriegen. Das war zweifellos ein Motiv. Der Steinewerfer und Heer hatten jedoch, soweit Streiff es überblicken konnte, keinen Grund, Mario Bianchera umzubringen, egal, ob sie von seiner Beziehung zu Legler wussten oder nicht.
Ein Motiv, Bianchera zu töten, hatte möglicherweise die Person, die Angela Legler bestochen hatte. Falls sie ihrem Freund davon erzählt hatte. Dem geradlinigen Bianchera, dem solche Mauscheleien extrem gegen den Strich gingen. Dann wäre er für jene Person ein empfindliches Sicherheitsrisiko gewesen. Natürlich barg es auch ein Risiko, jemanden zu töten. Aber jene Person war vermutlich imstande, alles auf eine Karte zu setzen, um ihre berufliche und politische Karriere zu retten; sie war auch mit der Bestechung von Angela Legler ein Risiko eingegangen. Musste er doch die Fingerabdruckaktion im Kantonsrat in Gang setzen?
Eine weitere Person, die auf die Liste der Verdächtigen gehörte, war Janine Bianchera. Rubina wird Mario beerben – das war einer ihrer ersten Gedanken gewesen, als sie die Todesnachricht gehört hatte. Streiff hatte noch nicht in Erfahrung gebracht, wie viel Geld er hinterließ. Unter Umständen war es ein starkes Motiv. Ihre Reaktion war seltsam gefühlskalt gewesen, vor allem ihre Idee, dass das kleine Mädchen den Vater so schnell als möglich vergessen sollte. Aber das hieß natürlich noch nichts.
Bilanz: zwei Morde, fünf verdächtige Personen, zwei davon unbekannt, eine hatte ein Motiv, beide Opfer umzubringen.
Im Laufe des Nachmittags trafen die Berichte der Rechtsmedizin und der Spurensicherung ein. Mario Bianchera war an den Folgen dreier Messerstiche gestorben. Es handelte sich nicht um die gleiche Art Messer wie das, mit dem Angela Legler erstochen worden war. Jenes Messer war lang gewesen, mit einer breiten, gezackten Schneide, dieses schmal und spitz. Die Tat war ungefähr um 1 Uhr nachts geschehen. In der Wohnung hatten sich keine Spuren eines möglichen Täters gefunden. Es sah so aus, dass Bianchera die Wohnungstür geöffnet hatte, der Mörder ihn gleich im Flur erstochen hatte und sofort wieder abgehauen war. Die Nachbarn hatten nichts bemerkt. Da die Wände zwischen den Wohnungen dünn waren, hatte wohl kein lauter Streit stattgefunden, denn das wäre den Nachbarn nicht verborgen geblieben. Vermutlich hatte das Opfer seinen Mörder gekannt. Bianchera hätte einem unbekannten Besucher um diese Zeit wohl nicht unbedingt die Tür geöffnet. War er mit ihm verabredet gewesen?
Lina saß in Valeries gemütlicher Wohnküche, ihre Freundin stand am Herd und rührte im Wok, in dem exotisches Gemüse brutzelte. Lina zündete sich eine Zigarette an. Sie rauchte nur, wenn sie Stress hatte, aber dann ziemlich viel, und Valerie, als ehemalige Raucherin, war großzügig. »Rauch nur«, hatte sie gesagt und ihr einen Aschenbecher hingestellt. »Ich muss ja später ohnehin gründlich lüften.« Sie gab geschnetzeltes Pouletfleisch in den Wok. In der Pfanne daneben begann das Wasser zu sieden, Valerie warf ein Päckchen Glasnudeln und einen Kaffeelöffel Salz hinein. »Bald fertig«, verkündete sie und schaute Lina forschend an. »Hast du überhaupt Hunger?«
Lina zuckte die Schultern.
»Macht nichts, du musst ein bisschen essen. Seit wann hast du nichts mehr gehabt?«
»Seit heute Morgen«, murmelte Lina.
»Eben«, meinte Valerie. »Du kriegst gleich ein Glas Wein, aber vorher isst du wenigstens ein paar Oliven.«
Lina drückte die Zigarette aus und griff gehorsam zu. Sie fühlte sich aufgehoben in der warmen Küche, in diesem Duft, gemischt aus Gewürzen, gebratenem Fleisch und Rauch. Im Hintergrund spielte Keith Jarrett das Köln-Konzert. Seppli seufzte im Schlaf. Lina beugte sich hinunter und streichelte den kleinen Körper. An jenen anderen Körper, der nie mehr atmen würde, nie mehr warm sein würde, wollte sie nicht denken, aber sie wurde das Bild nicht los. Nachdem sie das Büro verlassen hatte, war sie, ohne nachzudenken, in ihr Atelier gefahren, aber es war ihr fremd vorgekommen. Was will ich hier, hatte sie gedacht, nichts. Sie war gleich wieder gegangen, war nach Hause gefahren. Unfähig, etwas zu tun, hatte sie gewartet, bis es Zeit war, zu Valerie zu gehen. Warum hatte sie nicht Hannes angerufen? Vielleicht würde es ihn kränken. Schließlich hatte sie ihm ein SMS geschrieben: Es ist etwas passiert. Ich erzähle es dir morgen. Übers Wochenende würde sie zu ihm nach Bern fahren. Endlich ging es auf 19.30 Uhr zu
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