Satzfetzen: Kriminalroman: Ein Zürich-Krimi
Abends, in der Bar der Kronenhalle.«
Ihr Blick machte ihm klar, dass sie nicht annahm, dass er schon je an diesem illustren Ort gewesen war. Streiff verzichtete darauf, diesen Eindruck zu korrigieren.
Sie schrak auf. »Wovon sollen wir jetzt leben?«, rief sie. »Mario hat uns unterstützt, Rubina und mich. Ich bin während der Woche nicht berufstätig, ich kümmere mich um mein Kind. Mein Verdienst aus der Bar reicht nirgendwo hin. Kriege ich eine Witwenrente, trotz der Scheidung? Rubina wird ihn wohl beerben, nehme ich an.«
Sie setzte nachdenklich hinzu: »Für Rubina wird es schwer sein. Sie liebt ihren Vater. Das Beste ist, sie vergisst ihn möglichst rasch.«
Armes Kind, dachte Streiff, aber das sagte er nicht. Stattdessen sagte er: »In der Wohnung von Mario Bianchera ist ein Zwerghase. Könnten Sie den vielleicht zu sich nehmen?«
»Ach so. Müssen wir wohl. Obwohl wir schon ein Meerschweinchen haben. Man könnte den Hasen auch in den Zoo geben, als Futter. Aber das wird Rubina wohl nicht wollen.«
»Nein«, bestätigte Streiff, »das wird sie zweifellos nicht wollen.«
»Wie soll ich das nur der Kleinen beibringen?«, fragte Janine Bianchera. Plötzlich wirkte sie zerfahren und hilflos. »Wir müssen Trauerkleidung besorgen. Rubina braucht ein schwarzes Röckchen für die Beerdigung. Was das wieder kosten wird.«
Streiff war einen Moment sprachlos. »Sagen Sie es ihr behutsam«, meinte er, »und ein Kind braucht doch keine schwarze Trauerkleidung.«
»Meinen Sie? Aber sie kann doch jetzt unmöglich in einem rosa Kleid herumlaufen.«
»Das wird wohl ihre geringste Sorge sein.« Deutlicher wollte Streiff nicht werden; das Mädchen tat ihm leid. Er verabschiedete sich.
Was für eine zutiefst unsympathische Person, dachte er beim Hinuntergehen. Draußen sah er sich um. Jugendstilhaus. Die Wohnungen waren sicher nicht billig. »Er unterstützt uns«, hatte sie gesagt. Zweifellos hatte Mario Bianchera eine ganze Menge mehr als nur die Alimente für seine Tochter bezahlt. Hatte Madame Bianchera wirklich nicht gewusst, dass ihr Ex-Mann eine neue Beziehung hatte? Das hätte für sie bedrohlich sein können. Wenn er wieder geheiratet, mit einer anderen Frau Kinder gehabt hätte, dann wären sowohl die sehr großzügige Unterstützung als auch das Erbe infrage gestellt gewesen. Hatte sie dem zuvorkommen wollen?
Als er aus dem Haus trat, kam ihm ein kleines Mädchen entgegen mit einer bunten Schultasche am Rücken. Sie hatte dunkle Augen, ein rundes Gesicht, trug eine rosa Daunenjacke und Jeans. Sie warf ihm einen Blick zu, sagte Hallo und stieg die Treppe hinauf. Armes Kind, dachte Streiff wieder. Er schaute ihr nach und sah, dass ihre Schultasche mit Bildern des Hasen Felix, einer Bilderbuchfigur, verziert war.
Streiff versuchte wiederum, Fritz Legler zu erreichen. Vergeblich. Fuhr zu ihm nach Hause. Traf ihn nicht an. Fuhr in sein Büro. Durch den zweiten Mord hatte sich die Situation verkompliziert. Dass die beiden Tötungsdelikte, begangen im Abstand von wenigen Tagen an zwei Personen, die im gleichen Umfeld gearbeitet und eine Liebesbeziehung miteinander gehabt hatten, in irgendeinem Zusammenhang zueinander standen, war naheliegend, aber nicht erwiesen. Die Übereinstimmung konnte auch ein Zufall sein. Oder der zweite Mord segelte quasi im Schatten des ersten, suggerierte eine Verbindung, ohne dass es eine gab. Die zweite Frage war: Suchte er einen Täter oder zwei? Beide Opfer waren erstochen worden. Die Todesart von Angela Legler hatte in den Zeitungen gestanden. Auch hier: Eine Verbindung konnte gegeben sein. Oder auch nicht. Wer kam als Täter infrage? In beiden Fällen verdächtig war Fritz Legler, der Ehemann der ersten Toten. Es war naheliegend, dass der betrogene Ehemann seine Frau und ihren Liebhaber umgebracht hatte, und dieser Legler musste jetzt einfach her. Streiff schrieb ihn zur Fahndung aus.
Aber die einzige Möglichkeit war es nicht. Die Kantonsrätin konnte auch von einem gewalttätigen politischen Widersacher umgebracht worden sein. Zum Beispiel von einem, der nicht nur Steine warf, sondern auch ein Messer bei sich trug. Infrage kam auch Fridolin Heer, der kein Alibi für die Mordzeit hatte. Fridolin Heer, der offenbar im letzten halben Jahr in desolaten Verhältnissen gelebt hatte, arbeitslos, beschäftigungslos, sozial isoliert. Ein Bild für seinen inneren Zustand gab seine Wohnung ab, die vor die Hunde ging. Sein Kantonsratsmandat war vielleicht die einzige Chance gewesen,
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