Satzfetzen: Kriminalroman: Ein Zürich-Krimi
Kühlschranktür.
Sie trat auf die Straße. Wohin jetzt bloß? Ins Atelier? Nein, malen konnte sie jetzt nicht. Nach Hause? Ein Bad nehmen und sich verkriechen? Sie spürte, dass ihr das nicht guttun würde. Zurück ins Büro? Noch nicht. Sie wollte nicht diejenige sein, die der Chefin sagen musste, dass Mario tot war. Sie setzte sich in ein Café, bestellte heißen Tee, nahm ihr Skizzenbuch hervor und begann gedankenlos herumzustricheln. Sie erschrak. Es war Marios Gesicht, das ihr entgegenblickte. Sie legte den Skizzenblock weg und griff nach einer Zeitung. Ihre Augen folgten den Zeilen, ohne etwas aufzunehmen. Ihr Handy klingelte. Valerie war dran. Beat hatte sie angerufen und sie gebeten, sich um die Freundin zu kümmern.
»Willst du heute Abend zu mir kommen? Ich koche uns etwas.«
Lina nahm dankbar an. Sie bezahlte ihren Tee und machte sich auf den Weg ins Büro. Esther Jenny, die die Nachricht von Streiff erfahren hatte, gab ihr den Rest des Nachmittags frei. Ein Polizeibeamter war dabei, Marios Arbeitsplatz zu durchsuchen. Marios Teebeutel, seine angeknabberten Bleistifte, seine olivgrüne Strickjacke. Das waren jetzt nur noch irgendwelche Teebeutel, beliebige Bleistifte, eine herrenlose Strickjacke. Weil es keinen Mario mehr gab. In Lina stiegen Tränen hoch. Bloß weg hier.
Auf Streiff wartete, zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage, die Aufgabe, jemandem die Nachricht vom gewaltsamen Tod eines Angehörigen überbringen zu müssen. Die nächste Angehörige war Janine Bianchera, die Ex-Frau des Opfers und Mutter seiner Tochter. Streiff spielte mit dem Gedanken, Elmer herzubestellen, aber das wäre wohl zu weit gegangen. Also ging er allein hin. Sie wohnte im Seefeld; keine schlechte Wohngegend. Sie war zu Hause, das Kind glücklicherweise noch in der Schule.
»Polizei?« Sie reagierte misstrauisch, wollte die Angelegenheit am liebsten zwischen Tür und Angel abhandeln und Streiff brauchte etwas Überredungskunst, bis sie ihn in die Wohnung einließ. Sie blieb im Flur stehen und Streiff war gezwungen, ihr die Nachricht so beizubringen. Erst dann ging sie ihm voraus ins Wohnzimmer und setzte sich. Sie war eine blonde, gepflegte, etwas füllige Frau. Streiff wunderte sich, dass Mario Bianchera und sie jemals ein Paar gewesen waren. Sie schien überhaupt nicht zu seiner zurückhaltenden Art zu passen und er hätte gern gewusst, von wem das Scheidungsbegehren ausgegangen war. Wahrscheinlich von ihr, vermutete er.
»Mario tot? Umgebracht? In seiner Wohnung erstochen?« Sie schien eher ungläubig als geschockt.
Das Zimmer war elegant eingerichtet, helle Polstermöbel, alles sehr ordentlich, nirgends lag etwas herum, nichts deutete darauf hin, dass in dieser Wohnung auch ein Kind lebte.
Streiff stellte ihr ein paar Fragen. »Wussten Sie, dass Ihr Ex-Mann wieder eine Beziehung hatte?«
»Nein. Aber das interessiert mich auch nicht allzu sehr. Ich habe nur wegen Rubina noch mit ihm Kontakt.«
»Sie haben sicher vom Mord an der Kantonsrätin Angela Legler gehört«, fragte Streiff.
»Ja, natürlich. Hat das irgendetwas miteinander zu tun?«
»Wir wissen es nicht«, gab Streiff zu. »Aber Mario Bianchera hatte mit ihr eine Liebesbeziehung.«
»Was? Mit dieser vertrockneten Person? Wie ist er denn an die geraten? Ist sie nicht um Jahre älter als er?«
War das jetzt die Eifersucht einer Ex-Frau? Streiff war Janine Bianchera unsympathisch. Selbstsüchtige Person, dachte er. Sie war immerhin die Ex-Frau des Mordopfers, ihre kleine Tochter hatte den Vater verloren und sie regte sich über seine Freundin auf. Streiff hatte schon vieles erlebt, wenn er Angehörigen eine Todesnachricht überbringen musste. Verzweiflung, Gleichgültigkeit, Feindseligkeit, Verwirrung. Für Janine Bianchera brauchte er jedenfalls kein Careteam aufzubieten. Was die Sache ja auch für ihn einfacher machte.
»Was für eine Beziehung hatten Sie seit der Scheidung zu ihm?«
»Weshalb müssen Sie das wissen? Bin ich etwa verdächtig?«
»Wir müssen vieles fragen, wenn es um die Aufklärung eines Tötungsdeliktes geht«, erklärte er müde, »auch Dinge, die unwichtig erscheinen.«
»Er war Rubinas Vater. Sie hat die Wochenenden bei ihm verbracht. Er hat sie immer am Freitagabend abgeholt und am Sonntagabend zurückgebracht.«
»Hat es Streit gegeben?«
»Nein. Er hat nicht immer genügend darauf geachtet, dass sie sich nicht schmutzig machte, aber …«
»Sie war jedes Wochenende bei ihm?«
»Ja, ich arbeite am Wochenende.
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