Satzfetzen: Kriminalroman: Ein Zürich-Krimi
und Lina hatte sich auf den Weg machen können.
Valerie goss das heiße Wasser ab, schüttete die Glasnudeln in den Wok und vermischte sie mit dem Gemüse und dem Fleisch. Sie stellte die Pfanne auf den Tisch, schob Lina den Schöpflöffel hin und goss Rotwein in zwei Gläser.
»Hast du dich schon ein wenig erholt?«
»Ich weiß nicht«, sagte Lina, »das Ganze kommt mir so unwirklich vor. Ich weiß mit dem Verstand, dass es geschehen ist. Ich weiß, dass Menschen sterben, dass Menschen umgebracht werden und dass sie dann nicht mehr existieren. Aber mit dem Gefühl begreife ich es nicht. Wie kann das sein, dass es einen Menschen, der gelebt hat, einfach nicht mehr gibt? Gestern war Mario noch da und jetzt wird er nie mehr da sein.«
»Vielleicht ist er noch irgendwo«, meinte Valerie. Sie war nicht eigentlich religiös, pflegte aber eine unbekümmerte, ungeordnete und ein bisschen vage Vorstellung von einer Weiterexistenz nach dem Tod. Bücher über Nahtoderfahrungen beeindruckten sie. Das weiße Licht, das sie am Ende eines Tunnels sahen. Die Heiterkeit und der Friede, den sie dabei empfanden. Lina konnte mit dergleichen nichts anfangen. Sie fand es ein wenig naiv, sah es ihrer Freundin aber nach. So war Valerie eben: nicht nur die überlegte, blitzgescheite, erfolgreiche Geschäftsfrau, sondern auch spontan, von ihren Gefühlen geleitet, ab und zu etwas irrational.
»Wie war das damals für dich, als du Tschudi gefunden hast?«, fragte sie und schob sich tapfer ein Stückchen Fleisch in den Mund.
»Es war schrecklich. Ganz schlimm. Ich hatte auch die Empfindung, dass das gar nicht wahr sein könne, dass ich da in eine ganz falsche Realität hineingeraten war. Abgestürzt in eine Art Paralleluniversum, in dem nichts mehr stimmte«, erinnerte sich Valerie. Sie sah wieder Hugo Tschudis Leiche vor sich, so seltsam verrenkt unten an der Wendeltreppe. Und dann, nachdem sie ihn weggebracht hatten, war sein Umriss aus weißer Kreide geblieben.
»Jemand hat es getan«, fuhr Lina fort, »mit Absicht, es ist nicht einfach passiert. Es war kein Herzinfarkt oder ein Unfall. Jemand hat ihn ausgelöscht. Wie kann man so etwas tun? Wie kann man sich das Recht herausnehmen zu entscheiden, ob jemand leben darf oder tot sein soll?«
Valerie schwieg. Diese Frage hatte sie sich vor vier Jahren auch gestellt, immer und immer wieder. Auch während der Gerichtsverhandlung. Wobei jener Täter beteuert hatte, er habe Tschudi nicht töten wollen. Es war eine Tat im Affekt gewesen, die Strafe dementsprechend nicht allzu hoch.
»Hat es dich erleichtert, als du erfahren hast, wer es gewesen war?«, fragte Lina weiter.
Valerie seufzte. »Erleichtert ist das falsche Wort. Es war nochmals schrecklich. Aber wenigstens war die Ungewissheit weg. Es hatte etwas Unheimliches zu wissen, dass da irgendwo ein Mörder herumläuft, aber keine Ahnung zu haben, wer es war.«
»Ich kann mir überhaupt nicht denken, wer Mario hätte umbringen können. Und warum. Er war ein lieber Mensch. Es kann niemand gewesen sein, den ich kenne.«
»Vermutlich kennst du die Person ja auch nicht«, tröstete Valerie. Sie schenkte Wein nach. Gedankenverloren griff Lina nach einer Zigarette, obwohl ihr Teller noch halb voll war. Valerie musste lächeln. Das waren noch Zeiten gewesen, als man immer und überall rauchen konnte. Sie war zwar froh, dass sie davon losgekommen war, hatte aber nichts gegen kleine Ausflüge in die Lasterhöhlen der Vergangenheit einzuwenden.
»Was empfindet man in dem Moment, wenn einem bewusst wird, dass man jetzt getötet wird, dass man gleich sterben wird?«, überlegte Lina. »Mario hat die Person gesehen, das Messer, mit dem sie auf ihn loskam.«
»Ich hoffe, dass es ganz schnell gegangen ist«, sagte Valerie. »Komm, iss noch ein bisschen.«
Lina wurde bewusst, dass sie rauchte, während Valerie noch aß.
»Entschuldige«, murmelte sie und drückte die Zigarette aus. Aber vom Thema ließ sie sich nicht ablenken. »Wie hält dein Freund das bloß aus, er ist doch immer wieder mit solchen Taten, mit diesen Bildern konfrontiert.«
»Wir haben auch schon darüber gesprochen«, erzählte Valerie. »Einerseits gewöhnt man sich daran. Andererseits hat er Distanz zu diesen Personen, weil er sie nicht persönlich kennt. Und das Wichtigste ist, glaube ich, dass es Sinn macht, dass er dort ist. Dass er die Aufgabe hat herauszufinden, wer es getan hat. Es ist nicht einfach eine schreckliche Realität, die auf ihn einstürzt, wie es bei uns
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