Satzfetzen: Kriminalroman: Ein Zürich-Krimi
fern. Obwohl sie wusste, dass er es war, obwohl seine Gesichtszüge unverkennbar waren, erkannte sie ihn kaum. Es lag kein Ausdruck mehr auf seinem Gesicht. Der Tod verändert das Antlitz der Menschen, das war ihr auch bei anderen Toten aufgefallen, bei ihrer Großmutter, bei ihrem Vater. Es waren nicht die Züge, die einen Menschen unverwechselbar machten, sondern die Lebendigkeit. Wenn das Leben sich aus dem Körper zurückgezogen hat, wurde ein vertrautes Gesicht zu etwas ganz und gar Fremdem. War die Gestalt, die da lag, ihr Arbeitskollege Mario? Oder war es Mario gewesen? Mario gab es nicht mehr. Nie mehr. Lina war keine Atheistin, aber sie war auch nicht religiös. Ihr schien es plausibel, dass die Seele an die Hirnfunktionen geknüpft war. Wenn der Mensch tot war, gab es auch die Seele nicht mehr. Das war logisch und es war unbegreiflich. Obwohl Mario für Lina kein enger Freund gewesen war, fühlte sie sich, wie sie da neben ihm hockte, so verlassen, als gäbe es nur noch das: Menschen, die eben noch hier gewesen waren und plötzlich aufgehört hatten zu existieren. Es gab nur noch eine große Leere um sie herum.
So fand Streiff sie, als er eine Viertelstunde später eintraf. Er wusste gleich, was mit ihr los war. Wenn er zum Schauplatz eines Tötungsdelikts gerufen wurde, begegnete ihm das häufig: dieser ungläubige, entsetzte Blick von Menschen, die einen Toten aufgefunden hatten und die das Faktum dieses abrupten Todes im ersten Moment einfach nicht begreifen konnten, die mit etwas konfrontiert waren, um das sie theoretisch wussten, das aber ihrer ganzen Alltagserfahrung widersprach. Lina sah ihn mit diesem Blick an, bevor sie aufstand und sagte, in einem zögernden Tonfall, als ob sie etwas erzählte, von dem sie nicht sicher war, ob es stimmte: »Ich habe ihn gefunden.«
Streiff ging mit ihr in die Küche, da jetzt die Beamten von der Spurensicherung eintrafen. Der Zwerghase hockte in seinem Laufstall und knabberte an einem Stück altem Brot. Linas Blick wurde klarer. »Was geschieht jetzt mit dem?«, fragte sie. Und dann, erschrocken: »Und mit seiner Tochter? Er hat doch eine kleine Tochter, Rubina.«
»Wir werden uns darum kümmern«, versprach Streiff. »Mach dir keine Sorgen. Aber ich muss dir jetzt ein paar Fragen stellen. Wusstest du, dass Herr Bianchera eine Liebesbeziehung mit Frau Legler hatte?«
Lina reagierte erstaunt. Nein, das hatten sie alle nicht gewusst. Er war also tatsächlich verliebt gewesen, dachte sie. Glücklich? Unglücklich? Die beiden hatten doch gar nicht zusammengepasst. Wie war der weiche Mario an die forsche Angela geraten? »Warum ist er denn jetzt auch tot? Hat das miteinander zu tun?«, fragte sie verwirrt.
»Kennst du Angela Leglers Mann?«, wollte Streiff wissen.
»Nicht persönlich. Aber ich habe von ihm gehört. Nichts Gutes. Er ist Pfarrer. Ich glaube, er ist kein angenehmer Mensch. Die Tochter einer Freundin von mir geht regelmäßig in eine Jugendgruppe, die er leitet. Meiner Freundin ist es nicht recht, dass sie dahin geht. Es sind komische Partys. Zuerst tanzen sie zu Popmusik mit religiösen Texten. Dann müssen sie Zeugnis ablegen von ihren Gotteserlebnissen. Wenn sie nichts vorzuweisen haben, werden sie von Legler unter Druck gesetzt und vor den anderen blöd hingestellt. Einmal sei Lena weinend nach Hause gekommen. Legler hatte sie ausgefragt, was sie mit ihrem Freund mache, und danach hat sie sich von ihm getrennt. Barbara, meine Freundin, hat ihr geraten, nicht mehr hinzugehen. Aber Legler hat offenbar Charisma. Vielleicht ist Lena in ihn verliebt.« Sie schwieg. Dann sagte sie: »Glaubst du, Fritz Legler hat die Morde begangen, weil Mario mit seiner Frau eine Liebesbeziehung hatte?«
»Wir wissen es noch nicht. Du kannst jetzt gehen. Bist du in Ordnung? Fährst du nach Hause?«
»Es geht schon. Ich fahre erst einmal zurück ins Büro.«
Als Lina die Wohnung verließ, war der Flur leer. Die Leiche war weggebracht worden. Ein Mann und eine Frau in weißen Schutzanzügen durchsuchten die Wohnung. Lina warf einen Blick ins Wohnzimmer und ging rasch hinaus. Das war nicht mehr Marios Wohnung. Es war eine Wohnung, die ihre Funktion, ein Zuhause für jemanden zu sein, verloren hatte. Das Pendant zu einem obdachlosen Menschen. Alles in dieser Wohnung hatte seinen Sinn verloren. Die Anordnung der Bücher auf dem Regal. Die Äpfel in der Obstschale. Das Foto von Marios Eltern neben dem Fernseher. Der Zettel ›Zahnarzt anmelden‹ an der
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