Sauberer Abgang
tappte auf bloßen Füßen in die Küche und goß sich eine Tasse Tee ein. Heiß war er nicht mehr.
»Der Fall Marcus Saitz fällt ja wohl in Ihren Bereich.«
»Es gibt keinen Fall Saitz.« Nur eine Akte, dachte sie.
»Sagen Sie. Und was ist mit den Unregelmäßigkeiten, von denen im Bankhaus Löwe die Rede ist?«
»Geht mich nichts an, das gehört zu den Wirtschaftsstrafsachen.« Keller war lange genug dabei, um das zu wissen.
»Wußten Sie, daß Marcus Saitz bestens befreundet war mit Ihrem Kollegen Thomas Czernowitz? Von dem bekannt ist, daß er über seine Verhältnisse lebt?«
Das war der Moment, in dem sie das Gespräch hätte beenden müssen. Thomas hatte sich tatsächlich ein bißchen zu interessiert an Saitz’ Tod gezeigt. Wenn da was dran wäre …
»Und daß beide ein enges Verhältnis zu Julius Wechsler und Max Winter pflegen?«
Julius Wechsler, ein Immobilienmakler. Max Winter, Chef des »Gattopardo«, eines Restaurants, in dem sich die Einflußreichen der Stadt trafen – und die, die so taten als ob.
»Und stimmt es, daß …«
»Heben Sie sich Ihre Fragen für den Fall auf, daß wir einen Fall haben, Keller.« Endlich reagierte sie und drückte den Ausknopf.
Als sie aus dem Haus ging, schneite es. Der Tag fing schlecht an. Und er ging so weiter. Die Razzia in einem verkommenen Haus im Bahnhofsviertel, das bis in den letzten Winkel mit illegalen Einwanderern vollgestopft war, raubte ihr für heute den letzten Rest an Lebensfreude. Sie ging zu Fuß durch die Stadt zurück und hoffte, das würde sie aufheitern. Aber der Tag blieb bleiern, und die ausgemergelten Drogenkranken auf der Münchner Straße kamen ihr heute noch trostloser vor. Sie war gründlich deprimiert, als sie im Justizgebäude C ankam.
Karen horchte auf das Echo ihrer Schritte, während sie durch den langen Flur lief. Klangen sie noch immer aktiv, ehrgeizig, bestimmt? Oder schon so erschöpft, wie sie sich fühlte? Dabei gehörte sie doch sonst nicht zur »Alles wird schlimmer«-Fraktion. Wenn Freunde den Tod von Silvi und Sven zum Anlaß nahmen, Vermutungen über die zunehmende Häufigkeit brutaler Gewaltakte an Kindern anzustellen, widersprach sie. Ebenso, wenn jemand flächendeckende Gentests für Männer forderte oder eine rigorosere Ausländerpolitik. Deutschland war eine Insel des Friedens, verglichen mit all den Ländern, in denen ein schwacher Staat mit korrupten Eliten zusammentraf oder Menschen von ethnischer Reinheit träumten oder der Nachbar in der Straßenbahn neben dir imstande war, eine Selbstmordbombe zu zünden.
Deutschland war ein Paradies. Sie wußte das besser als viele – weil sie die Schattenseiten kannte.
Wir glauben so fest ans Böse, daß wir für das Gute kein Auge mehr haben, dachte sie und beschleunigte ihren Schritt. Hermano Ortiz-Soto de Ortega sprang zur Seite und machte einen ironischen Kratzfuß, als sie an ihm vorübersegelte.
Andererseits – wenn sie an die Gesichter der beiden Frauen dachte, vorhin, bei der Razzia, die allein in einem schmutzstarrenden Zimmer auf bloßen Matratzen gelegen hatten, zu krank, um sich rechtzeitig aus dem Staub zu machen …
Im Paradies faulten die Äpfel auf den Bäumen. Die Schicksale, die sie sich in den letzten Wochen aus den dürftigen Mitteilungen zwischen zwei Aktendeckeln zusammengereimt hatte, deprimierten sie zutiefst. Die Frauen, die sich aus den osteuropäischen Anrainerstaaten nach Deutschland hatten locken lassen, mußten für ihren Mut und ihren Aufbruchwillen zahlen – mit sexueller Gefügigkeit und so viel Geld, daß sie auf Jahre hinaus die Sklaven von Schleppern und Zuhältern sein dürften. Und niemanden schien das sonderlich aufzuregen. Deutsche gab es kaum noch im Reinigungsgeschäft.
Karen ließ den PC hochfahren und checkte die E-Mails. Nichts von Belang. Gunter ließ sie wieder einmal am ausgestreckten Arm verhungern, auf ihre letzte Mail hatte sie keine Antwort gekriegt. Sie lehnte sich zurück und versuchte, die Beine auf den Schreibtisch zu legen, aber irgendein freundlicher Mensch hatte ihr den üblichen Stapel Akten und Laufmappen genau dahin auf den Tisch geknallt, wo er im Weg war.
Sie guckte die Vorgänge oberflächlich durch und nahm dann eine Mappe heraus. Die Sache Saitz. Die Idioten von der Abteilung XIV hatten ihr den Vorgang einfach wieder zurückgeschickt. Arbeitet hier eigentlich niemand außer mir? fragte sie sich, nicht zum ersten Mal. Hatten die Kollegen Tomaten auf den Augen?
Den gelben Post-it-Zettel
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