Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sauberer Abgang

Sauberer Abgang

Titel: Sauberer Abgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
Vom Netzwerk:
Zigarette rauchte, die Karl ihm angeboten hatte. Billigen Rotwein trinken und Zigaretten rauchen – das war der Anfang vom Ende. Immerhin war der Ausblick spektakulär: Man sah von hier aus auf die hellerleuchteten Spitzen der Türme von Commerzbank und Helaba, in denen gelbe Wolkenfetzen hingen. Die beiden Feen, dachte Will. Die böse und die gute, wobei er sich nicht entscheiden konnte, welche was war.
    Karl sog andächtig an seiner Kippe und starrte in den Nachthimmel. Ob er an die Zeit dachte, als noch keiner der Bankentürme die Sicht versperrte? Damals hatte er seinem Sohn lange Vorträge über Freiheit und Kapitalismus gehalten, die wenigen Male, die Will noch nach Hause kam – und auch das nur seiner Mutter wegen.
    Der freie Himmel war nicht gemeint. Niemand trauerte dem ungehinderten Blick auf den Horizont weniger nach als Karl Bastian. Die Hochhausskyline Frankfurts war sein ganzer Stolz. Die Zwillingstürme der Deutschen Bank, das erste wirklich große Hochhaus Frankfurts – das war die Verwirklichung seines Lebenstraums gewesen. Und sein Sohn, ausgerechnet sein Sohn, wohnte damals in einem der Häuser, deren Bewohner nichts Besseres im Sinn hatten, als diesen Symbolen von Freiheit und Kapitalismus im Weg zu stehen. Die er baute, mit Herzblut, wenn auch nicht mit den eigenen Händen. Karl Bastian persönlich.
    Unmengen Tonnen Stahl. Unvorstellbare Mengen Beton. Karl Bastian hatte für seine Firma ganze Flotten von Transportbetonlastern organisiert, die rund um die Uhr ihr flüssiges Unheil in die Fundamente entleerten. Will hatte die Zahlen noch heute im Ohr, die sein Vater damals herunterzubeten pflegte bei jedem Besuch. Und er hörte noch immer das Geräusch der riesigen Rammen, mit denen man die Anker für das ungeheure Bauwerk ins Erdreich rammte. Keiner seiner Freunde hätte damals zugegeben, daß diese männliche Gewalt faszinierend sein konnte. Davon schwärmte die ältere Generation. Einer wie sein Vater.
    Karl Bastian machte in Beton, nein: Er war Beton. Er war all das, was man in den 80er Jahren bekämpfte, wenn man jung war und für die Friedensbewegung eintrat: ein autoritärer Sack im falschen Beruf. Will kannte die Familienlegende in- und auswendig, sein Vater hatte sie immer wieder erzählt, als ob er sein Glück nicht glauben konnte. Wie er nach Krieg und Gefangenschaft bei einem Bauunternehmer untergekommen war. Wie in den 50er Jahren Geschick und glückliche Umstände dem Sohn dieses Mannes zu einer der märchenhaften Karrieren verhalfen, die nur in der deutschen Nachkriegszeit möglich waren. Wie Karl, der als Lagerarbeiter begonnen hatte, immer dabei war beim unaufhaltsamen Aufstieg des unwesentlich jüngeren Mannes, den er Hänschen nannte. »Wir haben diese Stadt wieder aufgebaut«, pflegte er zu sagen bei sonntäglichen Spaziergängen durch Frankfurt, die Will als Kind inbrünstig gehaßt hatte. Und manchmal sagte er nicht »wir«, dann sagte er »ich«. Eben, hatte Will schon damals gedacht. Leider.
    Sie stritten sich, seit er dreizehn war. Der Streit zum Abschied war nur der vorerst letzte in einer langen Reihe unglücklicher Momente, unter denen Marga am meisten litt.
    Damals hatte er sich dem alten Betonkopf haushoch überlegen gefühlt. Heute war er sich nicht sicher, ob der Alte nicht etwas gespürt hatte. Etwas geahnt hatte von dem Drama, auf das Will und seine Freunde zusteuerten.
     
    Nach der Zigarette zog Karl sich in sein Zimmer vor die Glotze zurück. Will setzte sich vor den Schreibtisch und versuchte seine Gedanken zu ordnen, merkte aber bald, daß er doch nur wieder an die Zimmerdecke starrte. Der Wasserfleck erinnerte an ein malignes Melanom – äußerst bösartig und schnell wirkend. Es schien zu wachsen, während er nach oben starrte und der Fernseher nebenan immer lauter plärrte. Er war vom Regen in die Traufe geraten – die Familie Wagner konnte kaum schlimmer sein. Irgendwann hielt er es nicht mehr aus und ging hinüber. Von Karl sah man nur das weiße Haar, das über die Lehne des Ledersessels stand wie der Bürzel einer Gans. Er stellte den Fernseher leiser und nahm dem selig schlummernden alten Herrn das halbvolle Weinglas aus der Hand, das er noch immer fast senkrecht hielt.
    In der Ecke neben dem Kleiderschrank stand das geöffnete Paket. Will lugte in den leeren Karton. Der Geruch, der daraus aufstieg, erinnerte ihn an feuchte Kellerräume. An Rost und zerbröselnden Putz. Was ließ der Alte sich schicken? Sein Blick wanderte durchs Zimmer. Nichts

Weitere Kostenlose Bücher