Sauberer Abgang
war zu sehen, was nicht schon vorher dagewesen wäre oder was zu dem Karton paßte. Sein Blick ging zum Fernseher. Auf dem Bildschirm weinende Frauen. Wütend schreiende Männer. Tief fliegende Hubschrauber, Uniformierte mit Schutzschilden. Die Tagesschau war längst vorbei, es mußte sich um irgendeine andere Nachrichtensendung handeln.
Und dann … Offenbar ein Trauerzug, der sich durch ein verschlafenes Dorf bewegte. Will stellte den Ton wieder lauter. Eine Stimme aus dem Off erzählte etwas von einem tragischen Unglück. Alte und junge Frauen und Männer, dazwischen ein paar junge Kerle mit Motorradhelm und Palästinensertuch. Die Köpfe der Menschen senkten sich, einige schlossen die Augen, faßten einander an den Händen. Andere schienen zu beten.
Eine Schweigeminute, die der Kommentator aus dem Off mit Erklärungen überbrückte. Ein junger Demonstrant – wogegen? Das hatte Will nicht mitgekriegt – hatte sich an Eisenbahnschienen gekettet und war von einem Zug überfahren worden. Der Mann verlor beide Beine.
Auf dem Bildschirm sah man die Polizei anrücken, sie bildeten einen Kessel um die Demonstranten. Aus einem Lautsprecherwagen dröhnte blechern die Aufforderung, freiwillig und friedlich zu gehen. Dreimal. Wie es sich gehört. Einige Demonstranten riefen durch ein Megaphon. Andere, vor allem Ältere, gingen.
Will stand auf. Er wußte ja, was kam. Das, was immer kam. Dann schaltete er den Fernseher aus.
Es hatte sich wenig geändert seit damals. Die gleichen Rituale, die gleichen Schlachten, die gleichen Legenden. Die gleichen Kämpfe zwischen Vätern und Söhnen, die den Alten vor allem eines verweigern wollten: ihr Recht auf Ewigkeit.
Vor fünfundzwanzigjahren kämpften die Söhne gegen die Väter in Brokdorf, auf Friedensmärschen, in besetzten alten Häusern, gegen die Startbahn West. Gegen Männer wie Karl Bastian, die nach der Unsicherheit der Kriegsjahre sichere, stabile, unverrückbare und vor allem blitzblank saubere Verhältnisse schaffen wollten. Sicherheit und Stabilität bis in alle Ewigkeit. Verhältnisse aus Beton mit dem Charme und der Langlebigkeit von Reptilien.
Will jedenfalls würde nichts hinterlassen. Kein Kind, keinen Baum, wahrscheinlich noch nicht einmal ein Buch. Nichts, auf das er zeigen konnte, kein »Das ist von mir«. Man kann das, dachte er und grinste unwillkürlich, auch als Wiedergutmachung sehen.
12
Sie standen am Empfang und unterhielten sich mit Johanna Maurer, zwei Männer, der eine vielleicht Anfang dreißig, der andere älter. Als sich alle drei zugleich umdrehten und ihr entgegensahen, wußte Dalia Bescheid. Dennoch sank ihr das Herz in die Magengrube.
»Interessant, was man über Sie erfährt, Dalia.« Die Maurer lächelte, fast heiter sah sie aus.
Dalia hob die Schultern, ließ sie wieder fallen und sagte erstmal nichts.
»Kriminaloberkommissar Deitmer«, sagte der Ältere und hielt ihr einen Ausweis hin. »Und das ist mein Kollege, Gert Gieseking.«
»Wir brauchen Ihre Hilfe, Frau Sonnenschein«, sagte der Jüngere. Das sagen sie immer. Dalia blickte zum Empfang hinüber. In Milans Gesicht sah sie bestätigt, was sie gestern schon befürchtet hatte: Er mißtraute ihr. Taten das jetzt alle? Johanna Maurer lächelte noch immer.
»Ich – habe Dienst jetzt«, sagte Dalia lahm.
»Gehen Sie nur, Kindchen. Es ist wichtiger, bei den Ermittlungen zu helfen.« Hörte sie richtig? Die Chefin wurde ironisch!
»Ich habe schon alles gesagt. Ich habe dem nichts hinzuzufügen.«
»Das können wir sicherlich besser beurteilen, Frau Sonnenschein.« Der Ältere hielt ihr die Tür auf.
»Sie können in den Konferenzraum im ersten Stock links gehen«, rief Milan ihnen hinterher.
Dalia war mulmig zumute, als sie mit den beiden Bullen vor dem Aufzug stand. Mama hatte sich damals bei der ersten Vernehmung vor Angst in die Hose gemacht. Das konnte ihr nicht passieren, aber sie spürte ein verdächtig flaues Gefühl in der Magengrube.
Im Konferenzraum standen hellblau bezogene Stühle um einen ovalen Tisch.
»Setzen Sie sich doch, Frau Sonnenschein«, sagte Gieseking und versuchte sich an einer einladenden Geste. Sie setzte sich mit dem Rücken zur Tür. Vollautomatisch fuhr ihr Finger über einen dunklen Fleck in der rechten Ecke des Tischs. Eingebrannt, wahrscheinlich von einer Zigarette. Das ließ sich nicht mehr entfernen.
»Du hast die Putzfrauenkrankheit«, hatte der Mann gespottet, mit dem sie ein paar Monate lang zusammengewesen war, damals in Alzenau.
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