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Sauberer Abgang

Sauberer Abgang

Titel: Sauberer Abgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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Bedienung mit dem enormen Busen, dem dicken Pferdeschwanz und dem wunderbaren Lächeln, begrüßte sie wie eine alte Bekannte und fragte: »Wie immer?«
    Dalia nickte und spürte, wie ihr die Kehle eng wurde. Die zwei Worte rührten und verschreckten sie zugleich. Sie waren der Anfang vom Ende. Sie waren der Beginn eines Gefühls, vor dem sie seit Jahren flüchtete. Es nannte sich Heimatgefühl.
    Inka brachte ihr ein Glas Riesling. Sie seufzte, während sie den ersten Schluck nahm.
    Das Leben kann großartig sein. Wenn man es noch hat.

11
    Will versuchte wegzulaufen. Seine Füße waren unendlich schwer, seine Beine ließen sich kaum heben, dabei mußte er rennen, er mußte weg, er mußte schneller sein als sie. Um ihn herum knallte es, Rauchschwaden stiegen auf, grelle Lichtblitze blendeten ihn.
    Lauf, rief eine Stimme hinter ihm. Lauf doch endlich! Jemand packte ihn am Arm, er sah in Leos Gesicht, in dessen weitaufgerissene Augen. Lauf weg, flüsterte er.
    Will erwachte mit einem gequälten Laut. Sekundenlang wußte er nicht, wo er war. Seine Hand tastete nach rechts, dort, wo Vera lag. Dann warf er die naßgeschwitze Bettdecke von sich und horchte in die Dunkelheit. Vera lag nicht da. Er lebte nicht mehr mit ihr zusammen. Er wohnte in der Wohnung seines Vaters. Auf nackten Füßen ging er über den Flur zum Klo. Vor Karls Zimmer blieb er stehen und horchte. Der Alte schnarchte wie ein mittelständisches Sägewerk.
    Als er vor der Kloschüssel stand, spürte er die kühle Nachtluft auf der feuchten Brust. Er hatte seit Jahren nicht mehr so geträumt – nicht mehr davon geträumt.
    Er lag lange wach und schlief erst ein, als es Zeit war aufzustehen. Diesmal saß Karl bereits beim Frühstück, als Will es endlich aus dem Bett schaffte. Er hörte das Geräusch schon auf dem Weg zum Bad, ein Geräusch, das ihm seit seiner Kindheit vertraut war. Sein Vater saß am Frühstückstisch und las die Zeitung, wie nur Karl Bastian die Zeitung zu lesen vermochte.
    Und ich, dachte Will.
    Du liest die Zeitung, als ob du sie totschlagen willst, hatte Vera das genannt, das Zeitungsvernichten, das er jeden Morgen betrieb. Irgendwann begann sie so früh aufzustehen, daß sie sich knapp verfehlten. »Deshalb«, hatte sie erklärt, als es ihm endlich aufgefallen war.
    Deshalb. Weil Will die Zeitung ausgebreitet in beide Hände nahm, sie ruckartig nach vorne in Richtung auf sein Gesicht zog, bis sich der Knick in der Mitte umkehrte und er sie wieder zusammenfalten konnte, sofern er sie nicht erst noch geradeziehen mußte, mit einem zweiten knallenden Geräusch. Andere blätterten um. Aber Will hatte von seinem Vater eine Technik gelernt, die im Prinzip die unangenehme Notwendigkeit vermied, die Zeitung irgendwo abzulegen, um sie umzublättern. Der Vorzug dieser Methode war ihr Nachteil: Wenn man diesen Akt mit entsprechender Inbrunst ausführte, entstand dabei ein Geräusch wie die Explosion eines Knallfrosches.
    »Und wenn du dann auch noch auf deine Kollegen schimpfst – ich kann das einfach nicht mehr hören.«
    »So ein Mist«, hörte Will seinen Vater zischen, als er wieder aus dem Bad kam. »So ein abgrundtiefer Blödsinn.« Das Zeitungspapier rauschte wie ein ärgerlicher Schwarm Rabenvögel.
    Entweder hatte er sich die Technik des Zeitungslesens schon frühzeitig von seinem Vater abgeguckt – oder sie waren einander noch ähnlicher, als er eh schon befürchtete. Kann man Gesten vererben? Schlechte Angewohnheiten? Eine ganz bestimmte Geräuschentfaltung beim Zeitunglesen? Die Art, wie jemand Auto fährt?
    Will stieg in die Jeans und zog sich den Pullover über, den er immer trug, wenn es irgend etwas Praktisches im Haushalt zu erledigen gab.
    Es stimmte: Er fuhr Auto, wie sein Vater es getan hatte, als er noch Lust dazu hatte – aggressiv und laut schimpfend, besonders über Frauen am Steuer. Und kürzlich war ihm aufgefallen, daß er neuerdings nicht nur die Küchenplatte nach dem Reinigen mit einem Papierküchentuch trockenrieb, sondern das benutzte Tuch auch noch liegenließ, fürs nächste Mal – wie Mutter. Genauso sparsam. Ach was: geizig.
    »Hier! Hör dir das an!« Karl grüßte nicht, als Will in die Küche kam, sondern las gleich irgend etwas vor, das ihn schrecklich aufregte. Will hörte nicht hin, setzte sich müde an den Küchentisch, goß sich einen Kaffee ein, nahm die Tasse zwischen beide Hände und guckte seinem Vater beim Zeitungslesen zu. Sein Vater, der so eindeutig sein Vater war, wie man es sich

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