Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sauberer Abgang

Sauberer Abgang

Titel: Sauberer Abgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
Vom Netzwerk:
Frau offenbar hören wollte.
    »Danke.«
    Johanna Maurers Lächeln vertiefte sich. Das würde Dalia im Gedächtnis behalten in den nächsten Tagen. Dieses Lächeln.

13
    1981
    Marcus Saitz hatte Angst. Seit er es wußte, hatte er Magenschmerzen, jeden Morgen. Manchmal gab es kurz vor dem Aufwachen noch einen Moment der Unschuld, in dem er das heitere Gefühl hatte, alles sei gut und das Leben liege vor ihm wie ein sonnenbeschienener Fluß. Aber dann fiel es ihm wieder ein, und sein Magen zog sich zusammen, als ob eine Faust nach ihm griff und ihn zusammenquetschte.
    Er sah nicht auf, während er sich die Zähne putzte. Er sah auch beim Rasieren nicht in den Spiegel, überprüfte nur mit den Fingerspitzen, ob der ungnädig surrende Rasierer auch alle Härchen erfaßt hatten. Er wollte sein Gesicht nicht sehen, die kurzsichtigen Augen und den Mund, der aussah, als ob er sich gleich zum Weinen verziehen würde. Er brauchte das bißchen Haltung, das er noch hatte. Heute mußte sie wieder ins Krankenhaus, und er hatte versprochen, sie zu fahren.
    »Zwei Wochen, länger nicht. Kann ich dich allein lassen, Großer?«
    Natürlich konnte sie. Er wäre fast wütend geworden. Andere in seinem Alter waren schon längst ausgezogen, nur er hockte noch in Ginnheim, in dem häßlichen Reihenhaus aus den 60er Jahren, ein Andenken an seinen Vater, der sich vor fünfzehn Jahren, wenigstens nicht ganz ohne Gegenleistung aus dem Staub gemacht hatte. Nicht er konnte nicht allein sein, sie wollte er nicht allein lassen.
    In der Küche roch es nach Kaffee und Zigarettenrauch. Sie saß schon am Tisch und zog an einer Zigarette, ganz käsig und hohlwangig sah ihr Gesicht aus, wie eine Totenmaske. »Bill Haley ist tot«, sagte sie. »Und mir geht’s auch schon ganz schlecht.«
    Marcus lächelte pflichtbewußt. »Hast du was gegessen?« fragte er.
    Sie schüttelte den Kopf. Sie behielt kaum noch was bei sich seit einigen Wochen. Das Geräusch war schwer zu ertragen, wenn sie ins Bad lief und sich übergab.
    Marcus schob den Brotkorb von sich weg, den sie auf den Tisch gestellt hatte. Die Butter war warm geworden und gelb an den Rändern. Es lohnte sich nicht, auch nur irgend etwas einzukaufen, wenn niemand mehr aß. In diesem Haus verging jedem der Appetit.
    »Hast du gepackt?«
    Sie nickte. Sie hatte schließlich Routine. Und jetzt hätte er wirklich fast geheult.
    Vier Jahre lang hatten sie an das Wunder geglaubt. Vier Jahre lang tat Dorothea Saitz so, als ob sie gesund sei. Geheilt. Vier Jahre lang hatten sie beide die Zeichen übersehen, daß der Krebs noch lebte – und wie der weiterlebte und sich ernährte von ihrem schwachen Körper!
    Marcus räumte die Butter wieder in den Kühlschrank und wickelte das Brot in Plastikfolie.
    »Iß doch was«, sagte sie mechanisch, wie sie es immer sagte, »studieren ist Schwerarbeit.«
    Er war zu Hause wohnen geblieben, obwohl seine Kommilitonen ungläubig guckten und die wenigen Mädchen, mit denen er ausging, mitleidig lächelten. Er studierte mit einer Verbissenheit, die ihm selbst manchmal peinlich war. Er ging abends ungern in die Kneipe, besuchte keine der zahllosen Veranstaltungen der Friedensbewegung und Atomkraftgegner, machte alle Seminarscheine rechtzeitig, ließ keine Vorlesung aus und ärgerte sich, wenn wieder mal ein Trupp von Typen in Lederjacken das Seminar sprengte und ihnen irgendein weltbewegendes Thema aufschwatzen wollten, das sie gefälligst zu beschäftigten hatte.
    Er war ein angepaßter Spießer, na klar. Er mochte keine Jeans und keine Lederjacken und kein dummes Geschwätz. Nur die Haare schnitt er sich nicht, die langen Locken, die seine Mutter so liebte.
    »Mutterfixiert« hatte ihn mal eine genannt, an deren Namen er sich nicht erinnerte.
    Er konnte mit solchen Vokabeln nichts anfangen. Was hieß schon fixiert, wenn man eine Mutter hatte, deren Tage gezählt waren? Dorothea sagte »Tu mir den Gefallen«, und er tat, was sie wünschte. Es war ja nicht mehr viel Zeit dafür.
    Auf der Rückfahrt vom Nordwestkrankenhaus hörte er Nachrichten. Bill Haley war tot, sie hatte recht gehabt. Die Karten für alle acht Konzerte von Pink Floyd in der Dortmunder Westfalenhalle waren ausverkauft, meldete die Nachrichtensprecherin mit Grabesstimme. Und der Februar 1981 war kalt und würde kalt bleiben.
    Marcus hatte Angst. Vor den Besuchen im Krankenhaus. Vor dem Anruf, der womöglich irgendwann kam. Und vor dem Garten, in den sie im Herbst tütenweise Blumenzwiebeln gesetzt hatte,

Weitere Kostenlose Bücher