Sauberer Abgang
die Eichhörnchen gekommen und wieder gegangen, hatten genommen, was sie ihnen bot, und zeigten darüber hinaus kein weiteres Interesse an einer Begegnung. Warum sie das so unendlich traurig stimmte, wußte sie nicht.
Karen streifte die Schuhe von ihren Füßen und tappte barfuß in die Küche. Ein Blick in den Kühlschrank machte ihr klar, daß sie ihr Leben ändern mußte. Du verkommst, dachte sie mit plötzlicher Bitterkeit. Du gibst dich auf. Und ausgerechnet aus einem Grund, der sich weder lohnt noch weiterhilft. Kein Mann mag es, wenn man sich für ihn aufgibt. Uralte lebenspraktische Weisheit. Dazu brauchte man keinen feministischen Grundkurs.
Man gibt sich nicht auf für einen Mann, basta. Auch wenn er Gunter Carstens heißt, schmale, weiße, unendlich zärtliche Finger hat, mit denen er Leichen seziert und einen berührt, wie keiner vor ihm. Und …
Nicht daran denken. An seine Bewegungen, an seine Berührungen. An seine Augen, an seine Zunge.
»Der Flug war ausgebucht. Dabei wünschte ich mir nichts sehnlicher, als endlich wieder bei dir zu sein …«
Und nicht schon wieder vor Sehnsucht heulen. Gunter hatte heute morgen so wie immer geklungen – ganz nah und ganz weit weg zugleich. Aber warum bildete sie sich plötzlich ein, er sei in Wirklichkeit nur nebenan? Seither kreisten ihre Gedanken nur um eines: Sie sah ihn zu Hause in seinem Wohnzimmer sitzen. Er war nie nach Chicago geflogen.
Es war ihr gleich aufgefallen, letzte Woche, als sie ihn zum Flughafen hatte bringen wollen. Er war nervös gewesen, hatte behauptet, der Flug gehe viel zu früh, ihm sei lieber, sie schliefe aus.
Sie war gerührt gewesen über seine Rücksichtnahme. Wenn es aber gar keine Rücksicht war? Wenn er einen anderen Grund hatte?
Immerhin lag noch eine Flasche Grauburgunder im Kühlschrank. Sie holte ein Glas aus dem Schrank und setzte den Korkenzieher an. Das bißchen, was sie heute nicht gegessen hatte, konnte sie auch trinken.
Der erste Schluck lockte nicht ihre Lebensgeister hervor, sondern erstaunlich heiße und bereitwillig fließende Tränen. Du bist überarbeitet, dachte sie. Du hast nichts gegessen. Du kriegst deine Tage.
Aber das war es nicht. Sicher, sie war die Elendsgeschichten leid, die bei ihr auf dem Schreibtisch landeten. Aber vor allem hatte sie ihr eigenes Elend leid. Entweder keine Liebe oder eine unglückliche – das schien die Grundmelodie in ihrem Leben zu werden. Unweigerlich. Und das ist langweilig, dachte sie und nahm einen weiteren Schluck. Entwürdigend. Und völlig, völlig unnötig.
Zum hundertunddreiundsiebzigsten Mal verfluchte sie die Erfindung des Mobiltelefons. Nur Ahnungslose glauben, den anderen damit jederzeit erreichen zu können. Sie kannte mittlerweile alle Ausreden, die Männer erfinden, wenn sie gar nicht daran denken, erreichbar zu sein.
»Der Akku war schon wieder leer!«
»Es hat sich einfach ausgeschaltet, ich hab’ das erst gar nicht bemerkt!«
»Da muß ich gerade im Funkloch gewesen sein, als du angerufen hast!«
Und wenn man endlich zu den Kerlen durchdrang, wußte man nicht, wo sie waren. Stand er wirklich auf einer verkehrsumtosten Kreuzung mitten in Berlin? Oder auf dem Balkon seiner Geliebten, womöglich hier in Frankfurt, zwei Häuser weiter? War er wirklich mitten in der Sitzung rausgegangen, um sie von der Toilette aus anzurufen? Oder war er zu Hause, im Badezimmer, um sich den Lippenstift der anderen Frau von der Wange zu wischen?
Sie war eifersüchtig, und sie wußte nicht, ob sie überhaupt einen Anlaß dafür hatte. Sie wußte nur, daß er ihr erzählen konnte, was er wollte, und daß ihr nichts blieb, als ihm zu glauben oder sich von Mißtrauen zerfressen zu lassen.
Kürzlich hatte sie ihn angerufen, etwas, das sie sonst vermied, schon um nicht hören zu müssen, er habe keine Zeit. Eine schläfrige Frauenstimme meldete sich mit einem aufreizenden »Jaaa?« Sie hatte in Panik das Gespräch unterbrochen und seine Nummer gleich noch einmal angewählt. Diesmal hörte sie die Ansage seiner Mobilbox, bei der er sich räusperte, bevor er seinen Namen sagte.
Sie hatte ihm nichts aufgesprochen, was hätte sie auch sagen sollen? Gunter, wenn ich dich anrufe, meldet sich eine fremde Frau?
Eifersucht ist dumm, sagte sie sich. Krank. Albern. Unwürdig.
Sie ging hinüber zum Fenster und sah hinaus, auf das Gebäude gegenüber. Es schneite. Noch nicht einmal der Frühling hielt, was er verspricht.
Da war diese Postkarte gewesen. Sie hatten samstags beim
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