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Sauberer Abgang

Sauberer Abgang

Titel: Sauberer Abgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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eigentlich streben sollte. Und zum anderen …
    Ich bin schon lange steril, Vera, dachte er.
    Er sah keine Zukunft vor sich und blickte noch nicht einmal auf eine interessante Vergangenheit zurück. Wenn es hochkam, schlug er sich durch, mehr schlecht als recht. Ohne Lottogewinn. Er spielte gar nicht erst.
    Vera würde sich in ihren schlimmsten Befürchtungen bestätigt sehen, wenn sie sehen könnte, wie er mit seinem Vater abends auf dem Balkon saß, den Roten aus Wassergläsern trank und Karls Zigaretten rauchte. Ja, er rauchte wieder, noch schnorrte er bei dem Alten, aber bald würde er sich die erste eigene Schachtel kaufen. Dann würde er schon nachmittags eine rauchen, nicht mehr auf den Abend warten. Dann die erste vor dem Mittagessen. Dann nach dem Frühstück. Und dann …
    Sechs Jahre Verzicht vergebens. Er hatte sich die Kippen unter Qualen abgewöhnt, damals, in jenem leuchtenden Frühjahr, als er bei Vera einzog. »Wenn du den Gilb in den Gardinen fürchtest – ich kann ja draußen rauchen«, hatte er großmütig angeboten. Arbeiten, ohne regelmäßige Nikotinzufuhr? Unmöglich. Journalisten rauchen nun mal, auch die vom Lokalteil, das gehört zum Berufsbild.
    »Ich mag nicht, wie du riechst nach acht Stunden im Büro und all der Raucherei.« Sie hatte ihm den Hals geküßt. »Ich will dich riechen, sonst nichts.« Er hatte das damals unwiderstehlich gefunden und eines Nachts um Mitternacht in einem feierlichen Ritual die letzte Schachtel Marlboro im Main versenkt. Sie war seiner Erinnerung nach die erste und einzige Frau, der er ein solches Opfer gebracht hatte.
    Aber jetzt … diese paar Minuten abends auf dem Balkon – schweigend trinken, Rauch in den Nachthimmel pusten … Es gefiel ihm. Es machte weich und vertraut. Er hatte mehr als einmal daran gedacht, Karl zu fragen nach – na ja: nach was? Wer bist du, Vater? Hast du Marga geliebt? Und wer war sie, die meine Mutter war?
    Aber interessierte das den Alten überhaupt?
    Will stand auf und verzog das Gesicht, während er die Teile zusammensuchte, die er für den DSL-Anschluß brauchte, eine Neuerung in Karls Wohnung, auf der er bestanden hatte.
    Das war der Nachteil, wenn man sich erinnert: Man wird unweigerlich sentimental. Und obwohl er sich nie auch nur im geringsten für sein frühkindliches Dasein interessiert hatte, ganz zu schweigen von irgendwelchen Traumata, aus denen alle Welt irgend etwas ableitete, überfielen ihn Szenen aus der Kindheit neuerdings am hellichten Tag. Der kleine Will, der jeden Morgen Magenschmerzen hatte, wenn er in die Schule mußte. Der sich vor der Clique fürchtete, die die Klasse terrorisierte. Der den Musiklehrer, seinen einzigen Freund, quälte, nur weil die anderen es auch taten.
    Er war ein trauriger kleiner Feigling gewesen, und daran hatte sich auch später nichts geändert.
    Will Bastian kniete sich, mit der Taschenlampe in der Hand, vor den Telefonanschluß in der vorderen linken Ecke seines Zimmers. Er wußte zwar nicht, was er tat, wenn er jenen Stecker in diese Buchse steckte. Aber alle Welt schien davon auszugehen, daß nichts leichter war, als sich den Zugang zur großen weiten Netzwelt selbst zusammenzustöpseln. Meistens endete ein solches Unterfangen in zahlreichen Fehlversuchen und entsetzlichem Frust, dennoch hatte er gehofft, es würde ihn ablenken von der ewigen Grübelei. Aber der Film ließ sich nicht anhalten.
    Will beim Fußballspielen. Will mit gebrochenem Nasenbein. Will, das erste Mal besoffen. Will mit seiner ersten Freundin. Will nach dem Abitur. Will als Erstsemester.
    Und dann …
    Sein Hirn spielte ihm unablässig Bilder aus dem Sommer 1981 vor, einem Sommer, der im nachhinein aus Tausenden von warmen Nächten zu bestehen schien, aus Abertausenden von Worten und Berührungen und Augenblicken.
    Die Fünf, wie sie sich nannten, obwohl sie bald sechs und schließlich sieben waren – nein, acht mit Jenny –, hatten den ganzen Sommer am Baggersee verbracht, hatten geredet und geschwiegen und waren einander nah gewesen. Geständnisse von Schwäche und Sehnsucht, später schweigendes Einverständnis. Und wenn niemand mehr etwas sagte und das Feuer niedergebrannt war und eine weitere Korbflasche leer, waren sie eingeschlafen.
    Will erhob sich und sammelte die Verpackungen der elektronischen Teile ein, die er hoffentlich auf die einzig wahre und richtige Weise verbunden hatte.
    Er spürte es wie damals in der Magengrube, dieses Gefühl einer überwältigenden Macht. Ein Gefühl wie die

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