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Sauberer Abgang

Sauberer Abgang

Titel: Sauberer Abgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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türkisch aussehenden jungen Frau zusammengestoßen, die einen Wagen vor sich herschob, vollbeladen mit Papierhandtüchern und Klopapierrollen. Sie zeigte stumm zum linken Flur, als er sie nach Zimmer 129 fragte.
    Vor einigen der Türen hockten graue Müllsäcke, die meisten Türen standen weit offen. Nur die nicht, neben der Thomas’ Name stand. Er ist also tatsächlich noch da, dachte Will und drückte die Klinke hinunter.
    Er sah erst gar nicht, daß jemand in der Tür stand, so klein war sie. Sie mußte die Tür im selben Moment wie er von innen geöffnet haben, jedenfalls standen sie sich plötzlich so nah gegenüber, daß sie sich fast berührt hätten. Er glaubte, ihren Duft zu riechen, eine Mischung aus Orangenblüten und Putzmittel. Ihre Augen waren groß und hatten eine seltsame Farbe. Grün? Gelb? Katzenaugen? Die kleine Person trug einen Pferdeschwanz, einen blauweißen Kittel, darunter Jeans. Sie hob die beiden Hände in den rosa Handschuhen, die linke zur Faust geballt, als ob sie nicht wußte, ob sie kämpferisch grüßen oder sich ergeben sollte.
    »Entschuldigung«, sagte Will.
    »Macht nichts.« Ihre dunkle Stimme paßte nicht zu ihrer Größe. »Ich hatte vergessen, daß ich erst das Sekretariat putzen wollte.«
    Dann war sie an ihm vorbei. Er sah ihr hinterher und schob endlich die Tür ganz auf. Thomas war nicht in seinem Zimmer, natürlich nicht, sonst wäre ja die Putzfrau nicht schon hineingegangen. Lüften müßte man mal, dachte Will. Es roch nach verschmurgeltem Kaffee und Parfum. Auf dem Boden stand ein blauer Putzeimer. Als Will sich bückte, um den Eimer aus dem Weg zu stellen, sah er den kleinen glitzernden Gegenstand. Eine Art Amulett. Und dann sah er die Hand neben dem Gegenstand. Er atmete tief durch, richtete sich auf und ging langsam um den Schreibtisch herum.
    Thomas lag auf dem Boden und rührte sich nicht. Sein Kopf war nach hinten gefallen, der Mund stand weit offen und die Augen … die Augen waren schmale Schlitze, hinter denen man Pupillen ohne Glanz sah. Will ging langsam in die Knie.
    Das ist alles nicht wahr, dachte er und: Ein Arzt. Er braucht einen Arzt.
    Seine Finger griffen nach dem Amulett. Ein fünfzackiger Stern, dessen Spitzen miteinander verbunden waren. Er hielt die Luft an und stieß sie dann geräuschvoll aus. Er kannte das Zeichen, es nannte sich Pentakel. Eigentlich nichts Besonderes: Jeder fliegende Händler hatte so was im Angebot, jeder anständige Esoterik-Shop bot Pentakel für alle Fälle an. Aber es konnte kein Zufall sein, daß eines neben Thomas’ Leiche lag. Sie alle hatten damals ein Pentakel bei sich gehabt. Leo hatte dafür gesorgt – als Zeichen für ihre Verbundenheit.
    Wills Gedanken jagten einander im Kreis. Was, wenn Leo zurückgekommen war und … Aber warum? Und warum jetzt?
    Draußen polterte etwas gegen die Tür. Er stand hastig auf, als ob er nicht gesehen werden wollte neben dem Toten. Er sollte die Polizei anrufen. Oder hinauslaufen und Bescheid sagen.
    Er betrachtete das Amulett, das auf seiner Handfläche lag, steckte es in die Sakkotasche und beugte sich hinunter zu Thomas, um ihm ein letztes Mal die Wange zu streicheln. In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen. Will sah hoch. Die türkische Putzfrau, der er vor dem Aufzug begegnet war, stand im Zimmer und hielt sich die Hand vor den Mund.
    »Holen Sie die Polizei!« wollte er sagen, als sie zu schreien begann.

6
    1981
    Es war lausig kalt. Und wenn Vreni nicht darauf bestanden hätte, wäre er nicht mitgefahren. Mach das beste draus, dachte Thomas Czernowitz, und kuschelte sich in seinen gefütterten Parka. Als sie in den Sonderzug nach Hamburg gestiegen waren, hatte er nach dem Abteil gesucht, in dem die hübschesten Mädchen saßen. Und auf dem Busbahnhof in Hamburg hatte er sich sofort Gabi und Hans und die anderen ausgeguckt, schon weil sie bereits jetzt die Flachmänner kreisen ließen.
    Nach einer endlosen Warterei, dadurch versüßt, daß er Vreni wärmen durfte, fuhren die Busse los. Als sie die Autobahn verließen und auf die Landstraße Richtung Wilster Marsch einbogen, hatte Thomas zum ersten Mal das Gefühl, an etwas irgendwie Großem teilzunehmen: Es ging nur noch im Schrittempo voran, vor ihnen und hinter ihnen eine endlose Schlange aus Bussen und Personenwagen. Als sie durch ein Örtchen namens Stördorf fuhren, grölte der ganze Bus.
    »Wie viele wir wohl sind?« fragte Vreni. »Zwanzigtausend?«
    »100000«, sagte Hans, der das Ohr an einem kleinen

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