Sauberer Abgang
wieder zugemacht. Sein Vater schaffte es seit Jahren nicht, sich von dem zu trennen, was ihn jeden Tag an sie erinnern mußte – und jetzt sollte der Sohn ran? Ausgerechnet. Er war wie wahrscheinlich alle Söhne: Er hatte seine Mutter abgöttisch geliebt und seinen Vater – na ja: er hatte ihn übersehen, im besten Fall.
Was bleibt vom Leben eines Menschen? Nichts als Asche – oder gutgenährte Würmer.
Oder das, was Marga noch zu ihren Lebzeiten sorgfältig in der Anrichte im Wohnzimmer verstaut hatte. Will öffnete die beiden Türen weit. Auf dem mittleren Regalbrett lag ein Stapel von verblaßten Gebrauchsanweisungen für Geräte, die es längst nicht mehr gab im Haushalt seines Vaters. Will legte den Stapel beiseite. Das konnte man wegwerfen. Auf dem obersten Regalbrett lagen Briefe. Er hob Päckchen für Päckchen heraus. Die meisten hatte seine Mutter mitsamt den Umschlägen aufbewahrt, für jeden Absender ein eigenes Bündel. Die Briefe, die mit einem roten Geschenkband zusammengebunden waren, stammten von Will. Sie mußte jede schriftliche Äußerung von ihm gesammelt haben, auch die kindlichen Zeichnungen und Gedichte, die er ihr einst gewidmet hatte. Will spürte eine sanfte Hitze im Gesicht. Der Gedanke daran war ihm peinlich und rührte ihn zugleich.
Auf dem Bord darunter stapelten sich Ordner und Dokumentenmappen. Er griff eine heraus. Marga Bastian hatte die Geschichte ihrer Krankheit aufgeschrieben und mit allen ärztlichen Unterlagen sorgfältig geordnet und abgelegt. Selbst darin war sie noch penibel. Will spürte, wie ihm die Kehle eng wurde. Aber zu flennen begann er erst, als er in einer Ecke einen kleinen, prall gefüllten Ordner fand und ihn aufschlug. Lottoscheine, ausgefüllt in der klaren Handschrift seiner Mutter. Sie hatte jede Woche gespielt und alle Scheine aufgehoben.
Will wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. Sie mußte nicht auf Glück im Spiel hoffen, sie hatte alles, was sie brauchte – und das Leben, das sie viel zu früh abgeben mußte, gewinnt man nicht im Lotto. Sie hatte unter Garantie nur für ihn gespielt, für ihren nichtsnutzigen Sohn, der sich mit brotloser Kunst abgab. Er stellte den Ordner zurück und griff nach unten, dahin, wo die Fotoalben und Tagebücher lagen.
Im zweiten Fotoalbum blätterte er, bis er es nicht mehr aushielt. Will auf dem Arm seiner Mutter, nach der Geburt, sie war ganz bleich und durchsichtig auf dem Foto. Will an Mutters Hand, Will mit Schultüte, Will vor seiner ersten Reise allein. Und Marga, die zum Schluß wieder so durchsichtig aussah wie zu Anfang. Sie war erst 71, als sie starb und hatte bis fast zuletzt so getan, als ob sie ewig leben würde. Will erinnerte sich an die heftigen Debatten, als sein Vater sie zu einer Weltreise überreden wollte. »Meine letzte Reise? Die trete ich allein an«, hatte sie gesagt und versucht zu lächeln dabei.
Will klappte das Fotoalbum zu. Er glaubte zu wissen, was sich gehörte. Oder was sich nicht gehörte. Es paßte jedenfalls nicht, daß Karl Bastian mit seinen fast 83 Jahren das Leben in vollen Zügen genoß, während sein Sohn, fünfunddreißig Jahre jünger, zu Hause saß und in Fotoalben blätterte. Und Erinnerungsarbeit leistete.
Vera hätte das gut gefunden. Vera machte sich ja immer Sorgen, wenn man sich nicht genug um das kümmerte, was sie unter der Überschrift »Das wichtigste Betriebskapital bist du selbst!« abhandelte. Es war ihr zuzutrauen, daß sie just in diesem Moment liebevoll an ihn dachte und sich fragte, wie es ihm wohl erging ohne sie.
Nicht so gut, um ehrlich zu sein.
Bei ihm tickte zwar keine biologische Uhr, und Männer, hieß es, kriegen ja irgendwie immer eine Frau ab. Aber er hatte dennoch das Gefühl, daß etwas zu Ende gegangen war mit dem Auszug aus der gemeinsamen Wohnung, aus der er nicht viel mehr als einen Korkenzieher mitgebracht hatte, den er nicht mehr brauchen würde, wenn er weiterhin den billigen Roten seines Vaters trank – der hatte Schraubverschluß.
Ein Lebensabschnitt war zu Ende, in dem er sich noch eingebildet hatte, es würde stetig vorwärtsgehen. Das Leben schien in Bewegung, alles war möglich – jetzt noch diese Hürde nehmen, schnell noch jenen Widerstand überwinden, und dann …
Und dann.
Und dann – was? Der Moment war niemals gekommen, in dem er sich hätte zufrieden zurücklehnen können, weil er erreicht gehabt hätte, was erstrebenswert war. Das lag zum einen daran, daß er nie recht gewußt hatte, wonach er
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