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Saufit: Von einem, der auszog, nie wieder krank zu werden (German Edition)

Saufit: Von einem, der auszog, nie wieder krank zu werden (German Edition)

Titel: Saufit: Von einem, der auszog, nie wieder krank zu werden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A. J. Jacobs
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Freundin Vegetarierin ist (wusste ich nicht). Und alle ihre Mails unterzeichnete sie wie immer mit »deine exzentrische Tante Marti«.
    Eines Tages Ende Oktober schrieb sie mir, sie hätte sich gegen eine zweite Runde Chemotherapie entschieden. Sie schrieb nicht: »Ich habe mich fürs Sterben entschieden« – aber das war die Botschaft, die bei mir ankam. Ich zeigte Julie die Mail. Sie las sie mit bebendem Kinn und hielt dabei meine Hand ganz fest.
    Für mich war Martis Entschluss ganz furchtbar. Aber ich konnte ihn nachvollziehen. Selbst wenn die zweite Chemotherapie anschlug, hatte sie nur eine zehnprozentige Chance, die nächsten fünf Jahre zu überleben.
    Sie sagte, sie wolle alternative Behandlungsmethoden ausprobieren. Unglaublich, welche alternativen Behandlungsmethoden sie alle ausfindig machte und ausprobierte. Sie zog nach Connecticut in die Nähe eines ganzheitlich orientierten Mediziners, widmete sich mit Leib und Seele ihrem Entsafter und schluckte einschlägige Nahrungsergänzungsmittel, was das Zeug hielt. Sie kaufte eine Gerätschaft, die schwache (und angeblich krebsbekämpfende) Stromstöße durch ihren Körper jagte. Ein Freund aus Kalifornien behandelte sie mit einer »Didgeridoo-Therapie«, will sagen, er spielte direkt neben Marti auf dem Aborigines-Instrument, weil die dabei entstehenden Schwingungen angeblich helfen können, den Krebs aus dem Körper zu vertreiben.
    Zu meinem großen Erstaunen zeigte der alternative Therapiemix Wirkung. Die Anzahl ihrer weißen Blutkörperchen fiel wieder steil ab. Sie fühlte sich so gut wie nie, war voller Optimismus und Ideen für ein Buchprojekt über Tierrechte.
    Ich hatte fest vorgehabt, sie im November zu besuchen, sagte aber kurzfristig ab, weil ich erkältet war und sie nicht anstecken wollte. Sie riet mir per E-Mail, ich solle mich mit Oregano und Knoblauch kurieren. »Mit einem Einlauf wärst du die Erkältung wahrscheinlich auf einen Schlag los, aber ich vermute, dass du so weit dann doch nicht gehen willst.« Sie vermutete richtig.
    Einen Tag später rief mein Vater wieder an. Marti war im Badezimmer gefallen und hatte sich am Kopf verletzt. Nur Stunden später starb sie im Alter von 63 Jahren.
    Wir begruben die Urne mit ihren sterblichen Überresten auf dem Friedhof neben Großvaters Grab, das noch immer namenlos war. Es gab einige Bedenken, Marti unter einem giftstoffgeschwängerten Friedhofsrasen zur letzten Ruhe zu betten; sie würde bestimmt lieber draußen in der freien Natur sein wollen. Also wurde ein Teil ihrer Asche in der Nähe des Hauses ihrer Schwester in Vermont in den Wind gestreut.
    Nach der Trauerfeier saß die Familie noch bei veganem Tomatensalat zusammen und erzählte Geschichten über Marti. Über ihre Tierliebe, die so groß war, dass sie uns bei Familienfotos immer dazu animierte, im Chor »Sojaaaaa!« zu rufen anstatt »Cheeeeese!« – jedenfalls, bis sie zu der Überzeugung gelangte, die Sojaindustrie sei korrupt. Und dass sie kein Geschöpf auf Erden leiden sehen konnte und deshalb sogar auf Topfpflanzen verzichtete, weil sie es nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren konnte, die Wurzeln am freien Sprießen zu hindern. Wir waren uns einig: Keiner von uns war je einem mitfühlenderen Menschen begegnet.
    Seit zwei Wochen ist sie jetzt tot, und ich wünschte, ich könnte von mir behaupten, Martis völlig absurdes Ende hätte mir wenigstens einige Weisheiten von wegweisender Bedeutung beschert.
    Doch wir wissen noch nicht einmal die Antwort auf die einfachsten Fragen. Etwa, warum Marti überhaupt an Leukämie erkrankte. Vielleicht aufgrund genetischer Veranlagung. Vielleicht aufgrund von Umwelteinflüssen. Marti war von Letzterem überzeugt – ihrer Meinung nach war es einigen Giftstoffen gelungen, sie allen Vorsichtsmaßnahmen zum Trotz bis auf die Knochen zu durchdringen.
    Die erste Woche nach ihrem Tod konnte ich an fast nichts anderes denken als an das zynische und doch so triftige »Jim-Fixx-Argument«. Ganz egal, was Sie tun oder lassen, wie oft Sie trainieren, Bio-Blumenkohl essen oder einen Helm aufsetzen – schon morgen könnten Sie tot sein. Oder heute noch. Oder direkt nachdem Sie diesen Satz gelesen haben. Warum also der ganze Zirkus?
    Doch in den letzten Tagen habe ich mich dazu gezwungen, mir zumindest ansatzweise Martis Optimismus zu eigen zu machen. Auch wenn der oft genug in Richtung exaltierter Optimismus tendierte, insbesondere zum Schluss. Diese Frau war so optimistisch, dass sie glaubte, sie könne die

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