Saugfest
Hunderten von Jahren schon den Beruf des Reinzeichners kannte. Kunstgeschichte halte ich für möglich, immerhin gibt es ja die Alten Meister, und die müssen ja das Herumklecksen mit Ölfarbe irgendwo gelernt haben. Egal. Wenn das so weitergeht, wird Hubertus nie wieder aufwachen, und ich kann sehen, wo ich mit meinem güldenen Herbstlaub und mit meinem Lammbraten bleibe. William scheint meine Gedanken zu erraten; wenn ich auf Wortspielereien stehen würde, würde ich sagen: ›Er riecht den Braten.‹ William meint: »Wir haben nicht mehr viel Zeit. Sie rennt uns davon. Willst du, Helene, Hubertus retten, so musst du bereit sein, in dich zu gehen und Buße zu tun.«
»Ja, wie denn?« Ein Stück weit bin ich froh, dass es vorangeht, auch wenn ich immer noch nichts verstehe. Aber Hubertus hat nach wie vor Priorität. Ich möchte auch so gern, dass dieses wunderbare, mit nichts zu vergleichende Gefühl wiederkehrt.
»Wir sollten uns wieder in einem Kreis zusammensetzen«, schlägt Zottel vor, und alle nicken, mich eingeschlossen. Von mir aus. Ich habe ja weiter nichts vor.
»Gut«, nickt William, nachdem es einen kurzen Tumult gegeben hat, weil Kilian und Friederike unbedingt nebeneinandersitzen wollten und Zottel deswegen wieder aufstehen und sich woanders hinsetzen musste, was wiederum dauerte, weil alle rücken mussten, was Goske schon wieder zu viel war, weil er sich bedrängt fühlte, er, der bedauernswerte Herbergssohn aus Waldmichelbach, aber endlich sitzen alle da und warten.
»Natürlich ist das für dich jetzt Neuland«, beginnt William. »Aber es muss gesagt werden, wir haben es ja vorhin schon angedeutet. Du bist ein schlechter Mensch, du bist nicht kritikfähig, und vor allen Dingen glaubst du, dass du grundsätzlich im Recht bist, soll heißen, egal, was passiert ist, die anderen sind schuld.«
Ich nicke. »Das ist korrekt.«
»Ja, ist es denn die Möglichkeit?«, schreit Goske. »Nach allem, was mir angetan wurde von dieser Person!«
»Du Schlappschwanz!«, brülle ich zurück. »Einer, der es zu nichts gebracht hat, außer Mädchen Lurche in den Rückenausschnitt zu werfen und ihnen nachts heimlich die Haare zu bleichen. Von der Sache mit dem Eddingstift mal ganz abgesehen!« Meine Gedanken, die darum kreisten, dass ich Goske verzeihe und das alles nicht so schlimm finde, sind wieder in den Hintergrund gedrängt worden.
»Ja!«, Goskes Stimme wird nun schrill. »Aber warum? Warum hab ich das denn getan? Hast du darüber schon mal nachgedacht? Au! Falls es hier irgendjemanden interessiert, in meinem Bein befinden sich immer noch künstliche Maden!«
Es interessiert niemanden.
»Helene hat mich von Anfang an gehasst. Schon am ersten Tag in der Jugendherberge. Sie ist schuld an allem. Irgendwie musste ich mich ja wehren, oder etwa nicht? Das mit der angebrochenen Nase wurde ja schon angemerkt, aber das war noch lange nicht alles. Mit ihrer grausamen Art und ihren noch grausameren Taten hat sie mich und nicht nur mich fertiggemacht. Die Mädchen in ihrer Klasse hatten Angst vor ihr. Todesangst.«
Nun ist es aber gut. Todesangst. Hab ich eine vom Dach gestoßen?
Nein.
Na ja, fast. Ein Lehrer kam dazwischen.
»Ach Gottchen«, sage ich. »Und du willst ein Mann sein?«
»Das habe ich nie behauptet. Ich weiß sehr wohl, dass ich mich besser als Mädchen geeignet hätte.«
»Dann lass dich doch umoperieren. Aber hör auf, hier herumzulamentieren und so eine beschissene Mitleidsnummer abzuziehen.« Trotz allem tut mir Goske irgendwie leid. Warum, weiß ich auch nicht.
»Aha. Da haben wir es«, sagt William. »Die
Uneinsichtigkeit
. Sie will gar nicht hören, was sie falsch gemacht haben könnte.«
»Ich habe nichts falsch gemacht. Der Typ ist doch das letzte Weichei.«
»Da haben wir es. Die
Beleidigung
. Austeilen, aber nicht einstecken können.«
»Was wollt ihr eigentlich von mir? Soll ich Goske jetzt eine Woche Thalasso im Wellnesshotel auf Norderney spendieren, ihn vielleicht noch hinfahren und ihm die Koffer aufs Zimmer schleppen? Entschuldigung, ich meinte natürlich, in die Suite.«
»Das wäre eine Möglichkeit. Aber dazu kommen wir später. Einsicht in deine Taten und eine Entschuldigung wären fürs Erste genug«, sagt Zottel.
»Fürs Erste«, jammert Goske. »Wirklich nur fürs Erste.«
Ich verschränke die Arme und sage nichts. Ich hatte zwar kurzzeitig vor, den guten Goske wirklich ins Krankenhaus zu fahren, aber langsam habe ich das Gefühl, er suhlt sich gern in seinem
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