Saugfest
hatte einen offenen Bruch im Schädel, aber du meintest, du seist kein Krankenwagen, und Kinder würden sowieso immer übertreiben. Dann die Frau, die sich die halbe Hand mit einem Pürierstab abgeschnitten hat, und du –«
»Ist ja gut. Sag mal, hast du dir das alles aufgeschrieben oder was?«
»Natürlich. Ich führe schon seit langem ein Beschwerdebuch.«
»Das wusste ich ja gar nicht.«
»Du hättest es dir aber vielleicht mal denken sollen. Außerdem hab ich dir dauernd gesagt, dass es so nicht weitergeht. Geglaubt hast du mir allerdings kein Wort. Du dachtest, du kannst ja sowieso machen, was du willst.«
Das stimmt. Aber das sage ich jetzt besser nicht. Ich halte es auch für falsch, Benno ausgerechnet jetzt zu erzählen, dass ich möglicherweise ein anderer Mensch bin. Er würde es mir sowieso nicht glauben.
Niemand würde es mir glauben.
Zum ersten Mal hab ich das Gefühl, dass es besser sein könnte zu schweigen.
Ich fahre jetzt nach Hause. Ich brauche unbedingt Ruhe.
Ich muss nachdenken. Und endlich mal diese Tracht ausziehen und duschen.
Während ich zu meiner Wohnung kurve, überlege ich, wie es sich wohl anfühlt, eine Gruppe Kindergartenkinder über die Straße laufen zu lassen, ohne zu hupen und den Stinkefinger zu zeigen. Keine Ahnung. Aber ein Versuch wäre es wert.
Ich stiefele durchs Treppenhaus und hänge meinen Gedanken nach, dann bleibe ich stehen. Was riecht denn hier so komisch? Hat diese ausländische Familie aus dem Erdgeschoss wieder etwas Undefinierbares gekocht, von dem ich nie wissen werde, wie es schmeckt, wohl aber, wie es riecht? Ich schnüffle wie ein Raubtier, das Witterung aufgenommen hat. Nein, das ist kein Essen. Ich gehe weiter, und in meinem Stockwerk bleibe ich entsetzt stehen. Aus Herrn Richters Wohnung, die meiner gegenüberliegt, dringt Qualm!
Nachdem ich gegen Herrn Richters Tür bummere, sich aber nichts tut, stürme ich in meine Wohnung und rufe vom Festnetz aus die 112 an. Mein Gestammel muss von irgendjemandem verstanden
worden sein, denn schon ein paar Minuten später stürmen Feuerwehrleute durchs Treppenhaus und brechen Herrn Richters Wohnung auf. Ein Notarzt kommt mit Sanitätern angelaufen und Herr Richter, der ohnmächtig ist, wird abtransportiert. Einer der Feuerwehrleute bedankt sich bei mir im Namen der Freien und Hansestadt Hamburg. Ich nicke und frage geistesgegenwärtig, in welches Krankenhaus sie Herrn Richter bringen. Vielleicht werde ich später zu ihm fahren.
Seine Wohnungstür würde im Laufe des Tages von einem Schreiner repariert, vorerst aber gelte es, Herrn Richter am Leben zu halten. Und ob ich auf die Wohnung, in der momentan wegen des Schwelbrandes alle Fenster geöffnet sind, ein wenig achten könne, um eventuellen Langfingern das Leben schwerzumachen? Aber ja, aber ja.
Und zur Polizei soll ich dann irgendwann auch noch kommen, um eine Aussage zu tätigen.
Ja, ja. Hauptsache, Herr Richter ist bald wieder auf dem Damm. Der Schreiner kommt mit einem Mann vom Schlüsseldienst, ich begutachte das Ergebnis und bin einverstanden. Man händigt mir, der guten Nachbarin, das Schlüsselset aus.
Dann fahre ich zur Polizei, um diese Aussage zu machen. Um meinen Kram muss ich mich später kümmern.
Herrn Richter gehe es gut, sagt der Beamte, der ein bisschen irritiert ist, weil ich ja immer noch diese Tracht trage, aber vielleicht wirke ich so glaubwürdiger, eben wie eine fürsorgliche Nachbarin, die auch immer ihren Heißwasserkocher mit sich führt, falls mal irgendjemand spontan Lust auf einen Tee oder ein Tässchen Instant-Kaffee bekommt. Jedenfalls mache der Herr Richter sich unheimliche Sorgen um den Sittich, weil mit dem auch nicht so gut Kirschen essen ist. Welcher Sittich? Der Sittich akzeptiere nämlich nicht jeden so ohne weiteres, sagt der Beamte. Er bekomme ein spezielles Körnerfutter, das im Küchenschrank rechts oben liegt, und eine Extraportion Fenchelsamen, die lägen da auch, und frisches Wasser unbedingt. Das alles hat Herr Richter,
der zwar eine Rauchvergiftung hat, aber mittlerweile wieder aufgewacht ist, dem Beamten, der eigentlich nur wegen des Schadenshergangs ins Krankenhaus gefahren ist, eingetrichtert. Und die Wasserschale aus Ton muss aus der Voliere genommen und gereinigt werden. Der Sittich heißt Erich und ist fünfzehn Jahre alt. Herr Richter hat sich vor lauter Sorge um ihn so aufgeregt, dass er kurz davor war, auf seine Rauchvergiftung zu pfeifen und nach Hause zu gehen, nur damit Erich keine
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