Sax
nehmen. Aber war die Luft nicht immer dünner geworden? War es nicht dieser Mangel, über den sich sein Herz beschwert hatte; Mangel nicht an Sauerstoff, sondern an Anwesenheit?
Hubert Achermann hatte Sterben bisher für ein Ereignis gehalten, das demjenigen, dem es zustößt, nicht entgehen kann. Aber daß sich der Tod unbemerkt einschleicht, daß man ihn, wenn er eingetreten ist, vielleicht noch jahrelang überlebt, ohne es zu merken: darauf war er noch nicht gekommen. Er glich einer Comic figur, die ihren Lauf in die leere Luft hinaus noch ein Stück fortgesetzt hat, bevor die Tatsachen das Bewußtsein einholen – worauf sie, quietschend vor Entsetzen, abstürzt wie ein Stein. Doch Achermann stürzte nicht ab. Viel eher wurde ihm bewußt, wie lange er schon stürzte, und nun bedurfte es nur einer unmerklichen, doch unvorhergesehenen Bewegung, und die Welt kam zu einem Halt, und er damit auch. Etwas hatte gedreht, und er fühlte sich gehalten. Der lange Augenblick
trug
.
Das schiefe Lächeln der Scham. Er lächelte zurück und wußte,was jetzt zu tun war, obwohl er erst ein einziges Mal – als Begleiter Pascals im schwarzen Viertel Lüttichs – ein Kind gewickelt hatte. Dörig hätte sich amüsiert, wie sein Freund eine Windel unter Adrianas Hintern durchzog. Dafür mußte er sie anheben, sogleich schlang sie ihre Arme um seinen Hals; das machte ihr Gewicht leichter, aber verunmöglichte ihm seine Arbeit.
Sie
rözt
, sagte es schadenfroh neben ihm.
Das Wort war Achermann seit seiner Kindheit nicht mehr begegnet, und Gregor hatte er ganz vergessen. Nun aber drängte er sich herzu, einen Kelch in der Hand.
Hier hinein gefälligst, sagte er. – Damit sie sich ans Töpfchen gewöhnt.
Achermann löste Adrianas Arme, fiel auf die Knie, umfaßte ihre Hüften, preßte das Gesicht gegen ihren Schoß und verschloß die Quelle mit den Lippen. Was in seinen Mund floß, war Meerwasser mit dem Geschmack von Salz, Muscheln und Tang. Er schluckte mit Andacht, dann trocknete er, immer noch kniend, zuerst Adrianas Schoß, dann seine Lippen mit einer frischen Windel und richtete sich auf.
Stell den Kelch zurück, wohin er gehört, sagte er in schroffem Ton, und als Gregor zauderte, packte er ihn beim Kragen und schüttelte ihn. – Benimm dich, du Teufel.
Was soll das? zischte Gregor.
Weißt du nicht, wie man mit einem Andenken umgeht? sagte Hubert, und zu Adriana: Steh auf und wandle.
Sie ist zu alt, fauchte Gregor. – Sieh doch ihr Gesicht.
Er zog das Tuch von ihrem Kopf. Das Gesicht, das zum Vorschein kam, zeigte eine Greisin; die Umgebung ihrer wasserblauen Augen war von Faltenwerk gezeichnet, das der kunstvollen Fassung von Kleinodien glich, und auch ihr Mund wirkte eingefallen, aber sie sprach, und die Jugend, die aus ihrem Gesicht verschwunden war, strahlte jetzt in ihrer Stimme.
U bent een dappere ridder. Heft U het ware geloof?
Ich bin katholisch, Mevrouw.
Katholische sind galanter, aber falsch.
Sie sprechen wunderbar Deutsch, sagte er.
Sie machen ein Kompliment, um nicht zu hören, was ich sage. Das nenne ich falsch. Aber Männer, die sich nicht mal auf Komplimente verstehen, werden davon nicht besser. Falsch
und
grob, das ist das Letzte. Wollen wir es uns nicht bequemer machen? Sie kommen von weit her, nicht wahr? Die Einrichtung ist dürftig, aber
am
Tisch sitzt man doch besser als
auf
dem Tisch.
Sie streckte die rechte Hand aus, während ihre linke das Kleid über der Brust raffte, und Achermann half ihr auf den Boden. Sie ließ seine Hand nicht los, sondern führte ihn ans untere Ende des Tisches, wo die Stühle jetzt so weit von der Tafel abgerückt waren, daß beide Platz nehmen konnten. Sie bewegte sich fließend in der langen Schleppe ihres Kleides, ohne ihre Füße zu zeigen.
Sie sehen mir mein Negligé nach, sagte sie, Freunden zeigt man sich, wie man ist. Friderichludewig, unser Gast ist einem guten Tropfen gewiß nicht abgeneigt. Sei so gut und mach uns den Kellermeister.
Gregor nickte wie ein Nußknacker und entfernte sich rasch.
Diese Söhne, sagte sie, sie werden alt und häßlich, und auch daran soll die Mutter schuld sein. Als sein Vater tot war, habe ich ihm zuviel durchgehen lassen. Hat er Sie sehr angeödet? Ich bitte um Entschuldigung.
Erinnern Sie sich denn an mich? fragte Hubert Achermann.
Wenn der Bub aus dem Zimmer ist, kann ich’s ja laut sagen: es gab Kavaliere, die sich über Sie beschwert haben. Ich seufzte Hubert, wenn andere Hosianna singen oder Jesusmaria stöhnen
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