Sax
uns, vorwärts, rückwärtsoder irgendwohin. Die Zeit bringt keine Entwicklung ins Leben, sie ist seine Krankheit zum Tode. Mensch, wag doch mal, dich im Jenseits der Zeit anzusiedeln, wie man vor der Pest auf eine Insel flüchtet! Mein Sprung war eine Insel. Jeder Augenblick, in dem wir der Zeit spotten, ist eine Insel. Waren Sie nie in Versuchung, in die Linde zu springen? Dann will ich Ihnen was flüstern: wären Sie gesprungen, die Linde stünde noch – und nicht nur sie. So vieles stünde noch, auch Ihr verehrlicher Schwanz. Was heißt
existieren
? Hinausstehen – wie ein blutiger Daumen, wie ein praller Schweif! Der Unterschied ist nicht so groß, wie eure Wald-, Feldund Wiesen-Medizin sich vorstellt. Die Linde war krank vom Warten, und schließlich ging sie ein – niemand wollte wissen, was für ein gemachtes Bett sie war. Aber um es zu fühlen, mußte einer springen! Und um zu springen, darf er nicht wissen, ob da ein Netz ausgespannt ist oder nicht. Der Mut ist das Netz, das Wagnis ist die Rettung – ich lag wie in Abrahams Schoß und bin seither nie mehr geworden, was ich damals war: selig! Bis eure Hilfe kam, ihr Störenfriede – du hast sie noch weiter getrieben, bis nach Jona bei Rapperswil, wo du dich noch rechtzeitig erinnert hast, daß du kein Bruder des heiligen Franz mehr bist. Ich danke gebührend, dafür hast du eine Tochter verdient. Bist du denn ein guter Vater?
Nein, sagte Achermann.
Da kommen die Tränen, sagte Gregor. – Mir auch.
Ja, sagte Achermann. – Sie könnten mein Bruder sein.
Sieh dich vor. Philipp wurde von seinem Bruder totgemacht. Kain und Abel. Der Tod kam als Brudermord zur Welt. Nicht genug damit, daß die Menschen Mann oder Frau sein müssen, sie sind auch noch Brüder und Schwestern. Das kommt erschwerend hinzu. Je verwandter, je verdammter.
Ich habe mich oft gefragt, wie Sie damals auf unser Fest gekommen sind. Bevor Sie in den Baum sprangen, kannte Sie kein Mensch.
Sie irren, Herr Achermann, sagte Gregor. – Meine Einladung war eine Gefälligkeit Ihres Freundes Jacques. Vielleicht ein Schweigegeld– er hielt es jedenfalls für gut, mich in Ihre Kompanei zu ziehen. Ich hatte ihn mit Sidonie in einer sogenannten verfänglichen Situation ertappt.
Sie lügen, sagte Hubert Achermann. Gregor musterte ihn maliziös.
Tut es ein bißchen weh? fragte er. – Wenigstens an der lieben Eitelkeit? Sehen Sie: Schmerz kennt keine Zeit. Aber sehen Sie es mal anders: ohne Zeit kein Schmerz. Und jetzt möchten Sie Ihre Tochter sehen. Um jeden Preis?
Ja, sagte Hubert Achermann.
Dann muß ich Sie begleiten, sagte Gregor. – Jetzt ist das Helfen an mir.
25
November 2011. Aspermunt
Hinter den Dörfern der Bündner Herrschaft führt ein Sträßchen ins Gebirge, zu rötlichen Kalktürmen mit abweisenden Wänden. Aber je höher es sich hinaufwindet, desto mehr verschwinden sie. Anfangs führt die Fahrt durch Morast, dann knirschen Splitt und Schotter unter den Rädern; das Gewicht des Wagens schmiert immer wieder ab. Schrecksekunden für den Fahrer, die zum Alptraum werden, denn was eben noch wie ein Holzweg ausgesehen hat, verknappt sich zum Sims, der, in einen zunehmend steilen Hang geschlagen, immerfort steigend in eine weite Berglehne hinausführt, unbefestigt, ohne Geländer. Zwar ist er auch talseitig immer noch von Nadelholz begleitet, aber die Wipfel überragen die Straße gerade soweit, um dem Fahrer den Blick in die vielleicht schon gähnende Tiefe zu ersparen. Mit weit offenen Scheinwerfern tastet sich der Wagen vorwärts, Schritt für Schritt. Nur ein kleiner Fahrfehler, und es wäre kein Halten mehr.
Anfangs hat sich Achermann noch Sorgen gemacht, wie er je würde wenden können, jetzt ist er, mit zusammengebissenen Zähnen, dankbar für jeden Meter, auf dem die Spur noch hält. Weiterfahren bedeutet Lebensgefahr, aber Stillstand die größere; vielleicht ist der Boden unter den Rädern schon abgestürzt, kaum haben sie sich weitergedreht. Ein Blick über die Schulter sagt Achermann, daß Gregor grinst; er genießt die Fahrt auf dem Todessitz. Plötzlich lichtet sich das Grau, reißt auf, das Rheintal öffnet sich, zugleich dreht die Fahrbahn mit einer scharfen Wendung ab und findet plötzlich wieder Raum. Die Kante ist überschritten, eine fastebene Geländestufe erreicht, der Weg fällt jetzt sogar ein wenig ab. Zwischen den Stämmen blinkt Wasser, weitet sich zu einem kleinen zwischen Berg und Gegenhang gefangenen See. Am Ufer gegenüber, einen Steinwurf
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