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Sax

Sax

Titel: Sax Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
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lag noch immer unter seinen zusammengenagelten Füßen. Die Klosterpforte verbarg sich im Winkel, mit dem Klingelzug in schmiedeeiserner Befestigung.
    Hier war er vor acht Jahren eingetreten. Jetzt stieg er weiter ab, durch den kleinen Weinberg des Klosters bis zum Uferweg. Vor ihm breitete sich der See aus, doch die nächtliche Weite war verhüllt. Bleßhühner schrien, eine Ente knarrte, und von den Laternen, die den Weg zum Ende der Landspitze säumten, sah man nur die nächsten; ihr Orange verfärbte die Umgebung. Das Wasser plätscherte zwischen Felsblöcken vor der Mauer. Er setzte sich an die alte Stelle und fühlte die Kälte des Steins gegen sich aufsteigen. Seine Uhr zeigte halb vier.
    Er nahm sich vor, sitzen zu bleiben, bis er aus der Klosterkirche Gesang hörte. Damals waren sie beim Morgengebet sieben Männer in der fast dunklen Kirche gewesen, außer ihm nur zwei unter sechzig und nur noch einer bartlos. Beim Klang der eigenen Stimme schienen sie oft einzunicken, doch verstummten sie nicht. Noch im Traum folgten die murrenden Bässe der durchdringenden Stimme Bruder Vinzenz’.
    Er sah sich neben Bruder Nepomuk knien, der für den Novizen zuständig war; er war Österreicher, ungemein korpulent und konntenicht reden, ohne dabei schwer zu schnaufen. Sein dröhnender Tonus rectus hatte etwas Anzügliches. Er unterstrich es durch volkstümliche Redensarten. «Dreckstäßl» gehörte zu den Kraftworten, mit denen er unliebsame Zeitgenossen bedachte, und eines Tages hatte er Hubert die Bedeutung der e-Laute auseinandergesetzt. Er war aus Ottakring gebürtig, das Kind böhmischer Zuwanderer, die man an Spezialitäten ihres Dialekts erkannte. Den landläufigen Wiener «Dräcksteßl» sprachen Nepomuks Eltern «Dreckstäßl» aus, und das geschlossene «e» klang wie ein «i». Dies wurde als Merkmal der Unterschicht betrachtet, dabei befand man sich in allerhöchster Gesellschaft. Denn die Habsburger, auch der Kaiser persönlich, sagten ebenfalls «Drickstäßl»; natürlich nicht vor jedermanns Ohren. Aber
wenn
sie es sagten, dann nicht wie die Höflinge, sondern wie die Putzfrauen. Die Höchsten redeten die Sprache der Niedrigsten, getreu dem Herrenwort: die Ersten würden die Letzten sein und umgekehrt. Das war im Geiste der Kapuziner, in deren Kirche und Kutte die Majestäten ja auch beigesetzt wurden. Erst wenn sich die allerhöchste Leiche als armer Sünder zu erkennen gab, tat sich die Pforte des Grabes vor ihr auf, der Durchgang zur Auferstehung im Herrn.
    Als Vertrauensbeweis durfte Hubert Bruder Nepomuk ins nahe Frauenkloster begleiten, wo er als Beichtvater wirkte. Am Vormittag nahm er sich die Frauen einzeln vor und schickte den Novizen zum Spazierengehen. Aber beim Mittagessen durfte er wieder dabeisein, danach bei einer Messe, welche Bruder Nepomuk in seiner Prachtrobe zelebrierte. Der Frauenchor hatte Negro Spirituals einstudiert, und die zwei Brüder saßen als einziges Publikum in der ersten Bank. Schwester Leonie, die den Vortrag anleitete, hatte
groove
, und wenn sie vor ihren Frauen swingte, ruhte Bruder Nepomuks Blick mit volkstümlichem Entzücken auf der fiebrig wirkenden jungen Frau. Er ließ sich diese Abrundung seiner beichtväterlichen Zuständigkeit schwer atmend gefallen. Hubert aber empfand immer mehr das Herzzerreißende der weiblichen Inbrunst. Er wohnte keiner heiligen Handlung bei, sondern einem Menschenopfer.Sie kam ihm vor wie der Mißbrauch der armen Hirtenkinder von Fátima, der ihn revoltiert hatte.
    Aber es war eine andere Geschichte, die seinen Abschied vom Kloster besiegelte.
    Bruder Suso, ein gehemmter Westfale, war Hubert für die regelmäßige Prüfung seines Gewissens zugeteilt. Eines Tages bat er den Junior zu einem Gespräch unter vier Augen auf seine Zelle. Hubert machte sich auf große Dinge gefaßt, aber Bruder Suso hatte ein ganz privates Anliegen. Er spielte nämlich Gitarre. Nun hatte ihn Bruder Nepomuk als Ruhestörer verklagt; sein Spiel habe zuwenig Erhebendes, und überhaupt sei es schwach. Bruder Suso erbat sich Huberts aufrichtiges Urteil. Er würde ihm gern eines seiner Stücke vortragen, dann möge ihm Hubert sagen, ob er wirklich so schlecht spiele.
    Er spielte in der Tat wie ein Anfänger, und da er schon viele Jahre mit dem Instrument zugange war, konnte man Nepomuks Ungeduld nachfühlen. Da Suso aber auch nicht erlaubt worden war, Gitarrenstunden zu nehmen, empfand Hubert Mitleid mit dem wehmütigen Milchgesicht, dann aber packte ihn eine

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