Sax
Genugtuung, die eines Christen würdig gewesen wäre.
Aber das wußte Achermann allein, den er regelmäßig auf den See mitnahm, in seinem Motorboot «Rahel». Wiederholt war Zucker in den Benzintank geschüttet worden, da das gesunde Volksempfinden den Besitzer großmehrheitlich für einen argen Gottesleugner hielt. Der Blasenkrebs erschien als gerechte Strafe dafür. Und nun hatte er auch noch «fremde Richter» angerufen, gegen die 1291 der erste Bund der Eidgenossen geschlossen worden war, und brachte es fertig, zugleich Unternehmer und Trotzkist zu sein. Natürlich lud er auch mit seinem Produkt, der geruchlosen Windel, zu schnöden Sprüchen ein. Doch Dörig vertrug auch Schläge unter die Gürtellinie. Dafür genoß er die Massage, die ihm Marybel regelmäßig zuteil werden ließ, wenn sie ihn als diskrete Pflegerin auf die «Rahel» begleitete. Eigentlich ging es ihm ja sehr schlecht. Aber auch wenn der Wirbel um Gott seine letzte Freude sein sollte, bevor er ihm unter die Augen trat: der Streich hielt, was er sich davon versprochen hatte. Das Land erlebte seit Jahrhunderten wieder einen Gottesstreit, eine öffentliche Disputation des falschen Glaubens gegen den wahren, des berechtigten Unglaubens gegen den lästerlichen, und die Medien, vom Gratisanzeiger bis zur theologischen Fachzeitschrift, hielten – wie sich Dörig ausdrückte – «die Kacke am Kochen: jetzt sterbe ich ruhig.» In Straßburg schien man, trotz chronischer Überlastung, über den schönen Zankapfel nicht unglücklich. Auch die religiöse Volksbildung erlebte eine Sternstunde,denn alle Gottesbeweise der Vergangenheit kamen wieder zu Ehren, und eine Flut von Leserbriefen bewies, daß die Sache mit Gott nicht weniger reizte als Sex and Crime.
Dabei war Achermann noch in einen anderen Prozeß verwickelt. Nach ihrem ersten Auftritt ließ sich Sidonie im März zum ersten Mal in Marybels Büro blicken, nur um sie wie Luft zu behandeln. Was sie ihrem Advokaten zu eröffnen hatte, mochte jeder wissen: Sie habe den Termin des Bezirksgerichts zur Anhörung der Parteien erhalten. Dabei sei ihre Anwesenheit hoffentlich nicht nötig. Herr Dr. Achermann werde sie vertreten. Falls man mit der Aufmerksamkeit der Medien rechnen müsse: er beweise gerade, daß er in ihrer Behandlung ein Meister sei. Sie vertraue darauf, daß die Klage der Schwester abgewiesen werde. Da sie ein Kind erwarte, gebe sie die Schauspielerei auf und habe sich in der Schule für Soziale Arbeit eingeschrieben. In ihrer Frauen-WG sei das Studium mit der Mutterrolle vereinbar; im übrigen werde sie ihre Verhältnisse neu ordnen, wenn ihr Erbe freigegeben sei. Sie kam in den plissierten Kleidern eines japanischen Designers, in denen eine Schwangerschaft nicht zu erkennen war; allerdings hatte Hubert auch Mühe, sie sich in einer WG vorzustellen.
Kein persönliches Wort? fragte Reinhold.
Sie schaukelten auf dem Obersee, nur zwei Steinwürfe vom Wohnturm C. G. Jungs entfernt; in der kleinen Bucht davor lärmte seine Nachkommenschaft. Das Wasser war während Reinholds «Kur» zu seinem fast täglichen Aufenthalt geworden. Öfter als am gedeckten Bootsplatz lag die «Rahel» über Nacht in einer mehr oder weniger stillen Bucht vor Anker, und immer wieder traf er mit Hubert zum gemeinsamen Frühstück im «Schiff» zu Schmerikon zusammen und nahm ihn dann «auf große Fahrt» mit. Der Obersee war klein und bot immer dieselben Landschaftsbilder in unterschiedlicher Beleuchtung, und ebendiese subtile Einförmigkeit schien Dörig zu genießen. Das Baden ließ er sich nicht nehmen und verpflichtete auch das Personal seiner Firma dazu. An schönen wie anderen Tagen holte er es partienweise am Hafen der Seegemeindeab, in der die «Hygeia» ihr Domizil hatte. Reinhold duzte sich mit seinen 350 Werktätigen und machte sich am Steuer der «Rahel» – nach seiner verstorbenen Frau benannt – zu ihrem Familienvater. Sie schleppten Bier und Musikinstrumente an Bord und feierten mit ihm manchen Sommerabend, als wäre er der erste oder der letzte. In der Nacht und am Morgen aber war Reinhold allein auf dem Schiff, was Freunde nicht ohne Sorge sahen, zugleich im stillen Einverständnis mit dem größten anzunehmenden Unfall. Doch immer noch fuhr er nach Rapperswil zum Kiosk, um alle Zeitungen einzukaufen, in denen vielleicht etwas über seinen Prozeß zu lesen war, und Kreuzworträtsel, bei denen man «um die Ecke denken» mußte, blieben seine Leidenschaft.
Jacques Schinz war in diesem Sommer
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