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Sax

Sax

Titel: Sax Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
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Huberts Besuch bei seinem neugeborenen Sohn fehlgeschlagen war, hatten die Eltern miteinander keinen Kontakt mehr. Auf Umwegen erfuhr er, daß Sidonie ihr Studium mit praktischer Sozialarbeit in der Gemeinde, namentlich in einer Drogenstation, verbinde und den Umbau des «Gugger» zu einem Tagungszentrum betreibe. Die AAS hatte alle Hände voll damit zu tun, dieFrüchte eines starken Anfangs zu ernten. Moritz hatte das Zentrum seiner Aktivität von New York nach London verlegt, wodurch sie nicht durchsichtiger, aber noch profitabler wurde, während der Rest des Anwaltskollektivs in den siebziger Jahren einer gewöhnlichen Kanzlei immer ähnlicher sah, nur daß die Herren ihre Briefe immer noch selbst tippten, jetzt auf Schreibmaschinen mit Kugelkopf.
    Das Personalwesen lief über Marybel, mit der Folge, daß gar kein Personal eingestellt wurde. Sie behielt das Monopol aller Dienstleistungen in der Hand und übte es mit einer Hingabe aus, die man Selbstausbeutung oder auch Generalzuständigkeit nennen konnte. Selten verließ sie das Haus vor neun Uhr abends. Zu ihrer Ikonensammlung zog sie nichts, und die Phantasie einer romantischen Dachidylle mit Jacques war einer umfassenden Verantwortlichkeit für die Hausgemeinschaft gewichen, die nicht nur Peter Leu und Hermann Frischknecht einschloß, sondern auch Jacques’ Beziehungsleben – und vor allem seine Gesundheit. Aber sie liebte ihn unveränderlich, und wenn er in ihrem Büro vorbeikam, ein halb abwesendes, halb verzweifeltes Verlangen im geröteten Blick, kam es vor, daß sie ihm, wie eine Äffin, wortlos den blanken Hintern präsentierte. Das hätte sie für keinen andern Menschen getan; aber es gehörte zu ihrer Sorgfaltspflicht, die Zirkulation guter Geister im Haus nicht an Blockaden stocken zu lassen.
    Im Mai 1977 erreichte Hubert eine Einladung Sidonies zu Salomons sechstem Geburtstag. Er hatte gerade einen großspurigen Offroader mit Vierradantrieb gekauft; Jacques pflegte ihn wegen seiner Schwäche für starke Motoren ebenso zu hänseln wie dieser ihn für die Treue zu seiner luftgefederten Gottheit. Aber der Geländewagen war auf dem «Gugger» nicht ganz deplaziert. Denn Achermann fuhr auf eine Großbaustelle. Auf allen Seiten um das stolze Fachwerkhaus brachen Bagger die Erde auf. Mühsam hatte er zwischen Baugruben einen Parkplatz gefunden, und als ihn Sidonie unter der Haustür empfing, verstanden sie das eigene Wort nicht.
    Sie war braungebrannt und trug ein weißes plissiertes Sommerkleid; stattlicher war sie geworden und wirkte weniger gebieterisch.Sie führte ihn in den Weinkeller, dessen Kühle man zu schätzen wußte; auch der Baulärm drang nur gedämpft herein.
    Sie hatte den Weinberg unterhalb des Hauses verkauft und das Studium für soziale Arbeit beendet; gerade war sie in die Schulpflege gewählt worden. Am Evangelischen Kirchentag in Berlin unter dem Motto «Einer trage des anderen Last» hatte sie vom heilsamen Umgang mit Süchtigen berichtet und für die Tagungsstätte, die sie im «Gugger» einrichten wollte, Anregungen mitgenommen und Kontakte geknüpft. Zum ersten Mal war sie in der Stadt ihrer Geburt gewesen, nicht nur in Westberlin; sie hatte auch in Güstrow eine noch nicht siebzigjährige Frau besucht, ein ziviles, doch absurdes Zusammentreffen, denn Sidonies Nähe zu dieser Frau erledigte sich schon durch den Augenschein. Von ihrer Vergangenheit als vermeintliche Dame war nur ein geziertes Wesen übriggeblieben, eine Geheimnistuerei mit sich selbst, die eine früher gewiß anziehende Person im Alter nur noch töricht aussehen ließ. Sie hatte eine Art, ihre Mutterschaft an Sidonie
nicht auszuschließen
, welche die Besucherin degoutierte, und sie gewann den Eindruck, daß sich die im Arbeiter- und Bauernstaat zur Rentnerin gewordene Halbweltdame für ihre späte Mutterschaft von Verena ordentlich hatte bezahlen lassen.
    Sie selbst hatte das Erbe der Schwester nicht angerührt, sondern dem Gegenanwalt seinen Lohn hingeworfen und den Löwenanteil einem Kibbuz am Fuß des Golan überwiesen. Ihr eigenes Geld könne Hubert gerade arbeiten hören, und sie entschuldige sich für den Lärm. Über das 1971 zurückgewiesene Honorar verlor sie kein Wort und schien auch nicht wissen zu wollen, wie es Hubert ergangen sei – oder Asser und Schinz. Dabei behielt sie eine Intimität bei, die ihn befremdete, als nähme sie ihn als Komplizen für ein Spiel in Anspruch, das er nicht zu kennen brauchte, um als Kavalier mit ihr darüber vollkommen

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