Sax
Grundgeräusch aller Kreaturen. Der Glockenschlag der Augustinerkirche war nicht mehr zu hören, kein Martinshorn, kein Notalarm aus der Stadt, in deren Mitte man sich befand. Der Raum wies die Zeit ab wie Ölpapier Wasser. Achermann selbst fühlte sich federleicht und überwach, und sein Bewußtsein gewann eine Beweglichkeit, für die es keine Grenzen zu geben schien. Marybel hatte ihn gewarnt, er könnte in Sidonies Liegen einschlafen und nicht mehr erwachen, doch er ging nicht unter, erhob sich vielmehr in einen Zustand schwebender Konzentration. Er ließ seine Gedanken kreisen wie ein Jongleur seine Bälle, von denen ihm keiner entfiel; denn die Schwerkraft war ausgeschaltet, und jeder Ball ein Gestirn, das seine Bahn auch ohne Zutun kannte.
Manchmal erinnerte ihn seine Lage an seltsame Erfahrungen, die er als Kind beim Zahnarzt gemacht hatte. Der hatte ihn vor einer absehbar schmerzhaften Behandlung mit Lachgas betäubt und mußte sich in der Dosis vergriffen haben. Denn während er bohrte, hatte Hubert in ein unbekanntes Universum abgehoben, wo der Schmerz zum Auftrieb, das Bohrgeräusch, anfangs noch schrill, eine Weltmusik geworden war, in welcher er, ein Planet unter vielen, seine Bahn um eine schwarze Mitte zog. Sie war vielleicht nur das Loch in seinem Gebiß, an dem der Zahnarzt herumbohrte, seinerseits halb betäubt von dem Lachgas, das der Patient ausatmete. Aber was damals ein schlechter Trip gewesen war, wurde jetzt zu einer Weltreise des Bewußtseins, dem alles, was ihm begegnete, zur stillen Klarheit diente und zum tiefen Einverständnis mit seinem Dasein oder Nichtdasein; denn eines ließ sich vom andern nicht unterscheiden. Doch festhalten ließ sich auch nichts, die grundlose Einsicht ging verloren, sobald er sich wieder aufgerichtet hatte. Dann kehrten, mit dem Bewußtsein seiner Person, auch Raum und Zeit zurück, und damit das Schlagen der Glocke, dasGeräusch aus der Stadt. Er fühlte sein Gesicht dicht werden wie eine Maske, die sich jemand vorhält, der ein ganz anderes Gesicht zu verbergen hat oder verbirgt, daß er keins mehr nötig gehabt hatte. Denn er war als Ganzes Auge und Ohr gewesen, sogar Geschmack und Gefühl ganz und gar – keine Wahrnehmung mehr, sondern Wirklichkeit, fraglos. Doch sobald er wieder Hand und Fuß empfand, ließ sie sich nicht mehr fassen.
Manchmal fiel ihm ein Holzstich ein, in dem ein einzelner Mensch kniend durch das geschlossene Himmelsgewölbe stößt, das ihn bisher wie eine Eischale umfangen hat. Und nun starrt er dahinter auf das gewaltige Räderwerk, das aus immer neuen Welten ein grenzenloses Universum fabriziert. Und er weiß nicht, ob er mit diesem Durchbruch nun erst zur Welt gekommen ist, der wahren Welt, oder ob er nur seine altgewohnte verloren hat und mit ihr selbst verlorengegangen ist. Fest steht nur: hier ist etwas Endgültiges geschehen, und ein Zurück ins Ei gibt es nicht.
Die Bewegung der Himmelskörper, der kosmischen Materie, läßt sich in Grenzen messen, im Ganzen ermessen jedoch nicht und immer weniger. Vielleicht ist es kein Ganzes; vielleicht handelt es sich um etwas anderes als Materie. Vielleicht ist nicht einmal der Gedanke, daß sie sich durch Beobachtung verändert oder gar durch sie erst
entsteht
, so aberwitzig, wie es angesichts astronomischer Größenverhältnisse scheinen könnte. Denn vielleicht sind es gar keine Verhältnisse der
Größe.
Um nicht als Stäubchen zu verschwinden, hat sich der wissenschaftliche Verstand die Schutzhütte des Berechenbaren eingerichtet. So groß wird die Welt nie, daß er daran nicht etwas messen könnte; und solange er sie messen kann, hat sie eine bestimmte Größe, auch im kleinsten Teilchen.
Wie aber, wenn es gar nichts Kleines und Großes gäbe? Oder andersherum: wenn das, was es gibt, weder klein wäre noch groß? Wenn diese Kategorien Phantome wären – um kein Haar besser als die Gespenster, die sich der kleine Mann, als er sich noch im Ei aufgehoben glaubte, auf die Innenseite der Schale gemalt hat? Wenn uns die Frömmigkeit nichts mehr sagt: was weiß die Wissenschaftüber eine Ungröße, von der das grenzenlose Universum nur die uns zugewandte Seite ist, auf die wir unsere Phantasien zeichnen – nur daß wir keine Glaubensprüfung mehr bestehen müssen, sondern eine Rechenprüfung?
Der Raum, den Hubert unter seiner Kuppel bezogen hat, würde diese Prüfung nicht bestehen oder ihrer spotten. Es bleibt schon seltsam genug, daß
vor
ihm niemand sehen wollte, wieviel größer
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