Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sax

Sax

Titel: Sax Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
Vom Netzwerk:
dieser Raum, von innen betrachtet, immer gewesen sein muß als von außen – jedenfalls, seit die Außenhaut der Kuppel von einem Holzverschlag abgedeckt ist. Es ist ein veritabler Turm und seit Marybels Geißblatt-Begrünung ein unübersehbarer Hügel. Doch wenn man ihn als Kubus, als Würfel, betrachtet, hätten seine Abmessungen niemals ausgereicht, die Weite von Horners Kuppel aufzunehmen, die ihm eingeschrieben sein müßte wie der Halbkreis einem Quadrat. Horner, als Mathematiklehrer, hätte sie seinen Schülern vorgezeichnet, sogar mit Entzücken – er liebte die Geometrie als gültige Sprache Gottes, während er Gott, als ihm dieser theologisch begegnete, davongelaufen war, um die ganze weite Welt. Er mußte sie als Kugel erfahren, weil sie ihm als Tal des Jammers und der Sünde nicht genügte.
    So floß, was Hubert Achermann über Horner las und was er in Horners Kuppel erfuhr, immer wieder zu einer neuen Erzählung im eigenen Kopf zusammen. Von außen sah man die Sternwarte nicht, denn man sah nicht
sie
. Aber was hatten denn die Pläne gezeigt?
    Die älteren mußten verloren sein; die bei der «Handänderung» an Achermann, Asser & Schinz weitergereichten vermerken schon keine Sternwarte mehr. Am Rand der Etagengrundrisse ist allerdings, bis zur vierten, eine Treppenschnecke zu sehen, doch sie windet sich offenbar ins Nirgendwo, denn auf dem Dachstock erscheint an der erwarteten Stelle nur noch ein gestricheltes Quadrat. Es ist – wie auch die Dachzimmer, das Refugium der Familie Leu – mit feinster Feder gezeichnet, als wäre der Bausubstanz nicht zu trauen. Anstelle einer Kuppel ist nur noch der Kasten markiert, der sie nie und nimmer hätte fassen können; denn ihr Durchmessermuß – grob geschätzt – fast doppelt so groß sein. In jedem Fall gibt es zwischen dem Innen und Außen der Kuppel eine markante Differenz. Dabei ist auf beiden Seiten viel gemessen worden – vermutlich auch bei der Errichtung des Holzturms, ganz gewiß bei der Innenrenovierung. Hermann leistete Millimeterarbeit, um dem Raum zur nötigen Geräumigkeit zu verhelfen. Sidonies Sessel hätten gar keinen Platz mehr gefunden, wenn es nach der Außenabmessung des Kastens gegangen wäre. Aber
es ging
. Außen und Innen gehörten gewissermaßen nicht der gleichen Topographie an, die Differenz brauchte sich nicht zu zeigen.
    Weil es sie nicht gab? Achermann wußte es besser: es gab sie sehr wohl, doch nicht als Differenz, sondern als
andere Welt
. Sie war zugleich tief wie die Nacht und sonnenklar, solange sich der Sessel nach hinten neigte. Kippte er zurück, dann schrumpfte wieder zum
Zwischenraum
, was eben noch ein Reich ganz eigenen Rechts gewesen war. Die fünfte Hildesheimersche Vermutung von der Inversion künstlicher Räume war Horner noch nicht bekannt (und ist auch heute nicht vielen geläufig). Aber wie immer man den Spielraum beschreibt, für den «Differenz» kein Name ist und in dem sie geradezu überwunden erscheint: um ein «Jenseits» handelt es sich keinesfalls. Da es seine bemerkenswerteste Eigenschaft ist, nicht an Raum und Zeit gebunden zu sein, schleicht es sich sozusagen durch das empirische, das erfahrene Universum hindurch und schlängelt sich gleichzeitig gleichräumlich an ihm vorbei.
    Caspar Horner hatte sich in seinen letzten Jahren mit der trigonometrischen Vermessung seines Landes große Verdienste erworben. Aber vieles spricht dafür, daß er in der Nähe des Todes an einem anderen Raumkonzept arbeitete und einem unbekannten Meßverfahren auf der Spur, vielleicht schon verfallen war. Warum sollte diese – im Verhältnis zur individuellen Lebenszeit – perennierende Sphäre nicht in jedes Hier und Jetzt einsickern? Warum sollte sie sich nicht in Horners Architektur bemerkbar machen, die Achermann als Rückzugsgebiet für sich selbst wiederentdeckt und bezogen hat?
    Wenn die Grenze zwischen Innen und Außen Welten zu trennen scheint, gibt es ein Tabu zu beachten: diese Grenze darf nicht verletzt werden, am besten gar nicht berührt. Was geschehen kann, wenn sie zusammenstürzt, ist nicht auszudenken. Eine alles vernichtende Kernschmelze? Eine Explosion von Glück – tödlich nur für den Tod selbst, für Lebende und Tote aber ein neuer Himmel und eine neue Erde, eins nicht ohne das andere?
    So oder so ungefähr, aber manchmal auch ganz genau so sahen die Dinge aus, die sich Hubert Achermann in seiner Sternwarte träumen ließ.

Zweites Buch

11
1990/91. Diktat Horner
    Ein Jahr nachdem die Sessel

Weitere Kostenlose Bücher