Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sax

Sax

Titel: Sax Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
Vom Netzwerk:
Bank und streckte die Glieder. Marybel führte Buch; sie würde Jacques jetzt eine Weile festhalten und daran erinnern, daß er die Uhr hinterlegen mußte. Das hatte er zweimal versäumt, danach war siestehengeblieben und hatte sich als irreparabel erwiesen. Der Uhrmacher hatte gefragt: haben Sie die Uhr gebraten? Sie war der Beweis, daß in der Kuppel eine andere Physik herrschte. Uhren mußten außen vor bleiben, wie im – damals ganz neuen – Magnetresonanzgerät alle metallischen Gegenstände. Die Ausnahme bildete das Schiffschronometer, das dem Ausverkauf der historischen Instrumente entgangen war. Hermann hatte es nur aufzuziehen und die Zeiger zu richten brauchen. Es lag auf grünem Samt in einem Kästchen aus Rosenholz, und die schriftlose Strahlenskala auf weißem Zifferblatt machte es einem Kompaß ähnlich.
    Als Jacques eintrat, ließ er sich beglückwünschen, schlug die Arme gegen die Schultern und rieb sich die Hände. – Bei mir wird es nie richtig warm, sagte er, da beeilt man sich. Und du hast Bodenheizung. Beneidenswert.
    Vielleicht macht es träge, sagte Achermann. – Ich war nicht in Form. Zebedäus war auch schon stärker.
    I waagrecht: «Nach Schiller die höchste der Künste.» LEBENSKUNST.
    Wer die hätte, sagte Achermann.
    Schiller nicht, aber du auch nicht. Kein Lebenskünstler begräbt sich in einer Sternwarte. Die hast du ohne mich aufgetan.
    Damals warst du mit Marybel in Berlin.
    Die DDR lag in den letzten Zügen, und ich verhandelte noch mit «Volk und Welt» über ein Projekt: Goethe als furchtbarer Jurist. Hat eine Kindsmörderin dem Henker ausgeliefert, der Dichter Gretchens! Ich dachte, ich sei der erste, der ihm dahintergekommen war. Aber die Ausgrabung war ohnehin nicht opportun. Sie untergrub die Autorität – da deckten die DDR-Behörden doch lieber den Minister Carl Augusts. Der Herzog hätte das arme Weib übrigens laufenlassen, aber für Goethe stand die alte Rechtsordnung auf dem Spiel, also mußte sie bluten.
    Dafür wolltest du Goethe hinrichten. Vatermord, deine Spezialität.
    Und wieder mißlungen. Auch mit Marybel wurde ich nicht mehrwarm. Wir haben im «Neptun» logiert, mit schwedischen Betten, aber sie waren keinen Lauschangriff wert. Marybel hat es mit dem Übersinnlichen, das schlägt auf den Appetit.
    Sie liebt dich unveränderlich.
    Sie liebt mich fürsorglich, Hupp, und das muß ich nicht haben.
    Jacques ließ sich einen Sechstagebart stehen, der deutlich grauer war als sein gelichtetes Kopfhaar. Sein saloppes Outfit wirkte verwahrlost. Er hatte sich mit der Erbschaft Frau Seilers eine Vierzimmerwohnung in der Altstadt gekauft; nach der Trennung von Mara hatte er die attraktive Personalberaterin eines Touristikkonzerns hineingelockt, Daniela, doch es war eine Fehlinvestition, denn er mußte auch ihre Freundin Deirdre, eine irische Ethnologin, in Kauf nehmen. Das Frauenpaar, das seine Beziehung mit politischem Nachdruck lebte, wuchs ihm über den Kopf, er floh ins «Eiserne Zeit» zurück und war inzwischen dankbar, wenn die Damen seine Kamelien gossen und Telefonanrufe weiterleiteten. So dehnte sich seine Lebensunordnung auch auf das Büro im vierten Stock aus, das ohne Marybels ordnende Hand wieder so trostlos ausgesehen hätte wie zu Peter Leus Zeiten. Jacques fand, die Geister hätten wenigstens zum Aufräumen wiederkommen können. Doch für den Spuk des Vergessens, Verlegens und Verlierens gab es nur zu natürliche Erklärungen. Mit einem nachlässigen Junggesellen hat schon die Tücke der Objekte leichtes Spiel.
    Willst du glauben, daß Marybel meine Mutter aus dem Jenseits zitieren wollte? Ich war nahe daran, sie zu erwürgen.
    Achermann holte Eiswürfel aus dem Kühlschrank und goß Whiskey auf. – Was ist eigentlich aus Philipp von Hohensax geworden?
    Nicht Marybels Typ, sagte Jacques beim Anstoßen, sie zieht nur Geister an, die ihr gleichen, sinnig und mit schwülem Blick, wie Frau Dr. Moser. Der Mann mit der Schädelwunde ist nichts für ihre Gesellschaft. Da schätzt man Geister, die auf sich halten.
    Sie hat über die Sternwarte schon lange Bescheid gewußt, durch Peter Leu. Aber uns sagte sie nie ein Wort. Dieses Versteck wollte sie schützen.
    Schützen – vor wem?
    Vor meiner Naseweisheit, und sie hatte ja recht. Ich habe die Geister vertrieben.
    Freu dich nicht zu früh, sagte Jacques.
    Er betrachtete das Porträt des Astronomen, das über Gehlers «Physikalischem Wörterbuch» wachte. Horner trug Koteletten, und sein Hals verschwand bis

Weitere Kostenlose Bücher