Saxnot stirbt nie - Odo und Lupus Kommissare Karls des Grossen - Zweiter Roman
niederknien und ihm die Wadenbänder befestigen, die sich beim Laufen gelöst hatten. Dann trat er wieder an den Rand des Hügels.
Hätte er jetzt gleich zu sprechen begonnen, wäre wohl alles nach seinen Wünschen verlaufen. Der Klage wäre das Geständnis gefolgt, danach das Urteil und die Vollstreckung. Eine Hinrichtung als erhebender Abschluss kam zwar nicht mehr in Frage, doch einer Auspeitschung hätten wir zustimmen müssen. Neben der Wergeldbuße natürlich, die aber ein Besitzloser nicht einmal durch lebenslange Fron ableisten kann. Sie beträgt hier in Sachsen für einen Edeling 1440 Solidi, was einer Herde von ebenso vielen Rindern entspricht. Nirgendwo anders ist ein Edler gegenüber dem einfachen Stammesgenossen so wertvoll. Hätte umgekehrt Hatto den Erk getötet, der Herr seinen Knecht, wäre ihm nur der vierzigste Teil der Buße auferlegt worden.
Aber der Graf begann noch nicht mit der Klage. Er wollte uns nun einmal beeindrucken. So stellte er zunächst einen Antrag. Es handelte sich um eine Neuerung und er wollte uns zeigen, dass er sie kannte. Er beantragte, Erk einen Prolocutor, einen Vorsprecher, zu genehmigen. Der Beklagte, ein Mensch von schwachem Verstand, werde vielleicht nicht alles begreifen und brauche jemanden, der für ihn antworte.
„Und wen schlagt Ihr vor?“, fragte Odo.
„Dafür kommt nur sein Bruder in Frage“, sagte Volz. „Wig, unser Priester.“
„Und ist er dazu bereit?“
„Er ist es.“
„Und der Beklagte ist einverstanden?“
„Ja, der Beklagte ist einverstanden.“
Odo und ich berieten leise. Sollte man ausgerechnet den Priester zum Prolocutor bestellen, denselben, der seinen Bruder beinahe umgebracht hatte? Andererseits konnte dem armen Tölpel kaum noch geschadet werden. Die Zeugen der Tat waren anwesend und die noch mögliche Höchststrafe war ohnehin nicht zu vermeiden. Es wäre auch unklug gewesen, den nächsten Verwandten abzulehnen. Odo erklärte unser Einverständnis und rief den Vorsprecher auf, seinen Platz einzunehmen.
So trat Wig in den Ring: schmal und knochig, die Hände vor der Brust gefaltet, den tonsurierten Schädel mit den umschatteten Augen zwischen die Schultern gedrückt. Zum meinem Erstaunen blickte er mit einem düsteren Lächeln zu mir empor und verneigte sich demütig. Dann stellte er sich neben Erk und seine Bewacher.
Inzwischen waren auf der anderen Seite auch die Frauen im Ring erschienen. Ich bemerkte, dass sich Volz und Nelda mit einem Blick maßen. Das strenge Mädchen hielt ihn länger aus, während der Graf sich mit einer ungeduldigen Geste abwandte. Auch Frau Frodegard schien das nicht entgangen zu sein. Argwöhnisch musterte sie die beiden und ließ sie von jetzt an nicht mehr aus den Augen.
Nun endlich begann der Graf mit der Klage. Ein grausamer und gemeiner Mord sei geschehen, sagte er mit seiner tiefen, klangvollen Stimme. Ein Knecht habe seinen Herrn getötet, das schlimmste Verbrechen begangen, das überhaupt denkbar sei. Die Ordnung der Welt sei aus den Fugen geraten. Erleuchten möge Gott der Herr das Gericht, damit es mit einem gerechten Urteil diese unerträgliche Störung beseitige.
Er sprach zornig und leidenschaftlich. Von einem zwar mit Kraft, doch nicht mit Verstand gesegneten Burschen, dessen rohe, unempfindliche Seele böse Dämonen beherrschten. Von dem Sohn eines Vaters, der Christus verraten und dafür schrecklich gebüßt habe. Von dem Versuch des fast noch Halbwüchsigen, diesen Akt der königlichen Gerechtigkeit durch den Mord an einem Gerichtsboten zu verhindern. Von der Flucht vor der verdienten Todesstrafe, der Rückkehr in den heimischen Gau als verachteter Bettler. Von der Aufnahme durch den barmherzigen Christen Hatto, der dem Entwurzelten Brot und ein Dach gab. Vom frechen Anspruch auf dessen einzige Tochter. Von den Drohungen gegen den sanftmütigen und schwächlichen Herrn. Von der entsetzlichen Untat schließlich, mit tierischer Grausamkeit verübt, vor den Augen der fassungslosen Markgenossen – ja, fast vor den Augen der Königsboten.
Volz winkte Nelda und dem Mann mit dem Schild und schritt, von den beiden flankiert, rasch auf Erk zu. Der große Bursche riss heftig den Kopf zur Seite, als ihm die Totenhand fast ins Gesicht fuhr.
„Gestehst du, Erk, Sohn des Bertmund“, rief der Graf mit donnernder Stimme, „diese Hand, die schützend über deinem Haupt ruhte, in einen Klumpen faulenden Fleisches verwandelt zu haben? Gestehst du, den Vater dieser Jungfrau, deinen Herrn und
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