Sayuri
nicht verärgert.
Yuuka drängte sich zwischen sie. »Der Kleine hat was entdeckt«, schnurrte sie mit einem grollenden Unterton.
Sayuris Blick glitt wieder zu Shio hoch, der sich gerade wie ein kleiner roter Feuerball zwischen den Felsen herabstürzte. Er erinnerte sie an die untergehende Sonne.
Die Wiljar stieß ein zorniges Fauchen aus. »Menschenkind«, knurrte sie.
In dem Moment erreichten sie den kleinen Platz zwischen den Felsen, zu dem Shio hinabgeschwirrt war und der nun in rotes Licht getaucht war. Vor Überraschung riss Sayuri die Augen weit auf. Marje, rief sie stumm, dann rannte sie an Yuuka vorbei und warf sich in die Arme ihrer Freundin, die sie im gleichen Moment gesehen hatte.
Marje sah zu dem Jungen auf, der wie ein Teil der Wüste gegen den Felsen gelehnt dastand, und neben ihm die große sandfarbene Raubkatze, halb abgewandt.
Marje spürte, wie sich ihre Freundin von ihr löste. Mit beiden Händen griff sie nach dem linken Arm des Jungen, der bei ihr gewesen war, und zog ihn vom Felsen zu Marje hinüber. Ihre Augen leuchteten erwartungsvoll.
Eine riesige Raubkatze stand im Hintergrund, deren Anblick Marje schaudern ließ. Noch nie hatte sie einen lebendigen Wiljar zu Gesicht bekommen. Sie kannte die Tiere nur von der Flagge des Kaisers.
Der Junge wandte Marje das Gesicht zu. Hinter ihm beobachtete die Raubkatze das Geschehen aufmerksam. Die Augen des Wiljar waren fast ebenso gelb wie die des Jungen. Bei dem Gedanken überlief Marje eine Gänsehaut. Kein Mensch hat so gelbe Augen.
Eine Windböe riss dem Jungen den Schal vom Kopf, spitze Ohren stachen durch die glatten blonden Haare.
Sayuri blickte aus ihren großen Augen vertrauensvoll zu ihm auf, und als der Junge jetzt zu sprechen begann, bestätigte sich Marjes Verdacht. Scharfe Eckzähne wurden entblößt, als er den Mund öffnete: »Ich glaube, Sayuri möchte wissen, wo Kiyoshi ist.«
Verwirrt sah Marje zu Sayuri, die sie nur scheu anlächelte.
Ehe sie etwas erwidern konnte, trat der Junge einen Schritt auf sie zu. »Warte«, sagte er. »Gib mir deine Hand.«
Zögernd streckte sie ihre Hand aus und musste sich zwingen, sie nicht zurückzuziehen, als ihr Blick auf die viel zu schmalen Finger fiel, die in Klauen zu enden schienen.
Er schloss seine Hand nicht um ihre, sondern berührte nur leicht ihre Handinnenfläche und schloss kurz die Augen.
Marje?
Erschrocken fuhr sie zusammen und riss ihre Hand zurück. Aus großen Augen starrte sie ihn an. »Was ist das?«, fragte sie. Die Stimme hatte irgendwie vertraut geklungen und war direkt in ihrem Kopf gewesen.
Sayuri grinste sie breit an.
»Sie«, meinte der Junge und zeigte auf Sayuri, deren Augen vor Freude Funken zu sprühen schienen. Wie ein kleines Kind wippte sie ungeduldig auf den Zehenspitzen.
Der Junge reichte ihr erneut die Hand. »Es hat doch nicht wehgetan«, versuchte er sie zu überreden.
Skeptisch griff sie wieder nach den Fingern, die rauer aussahen, als sie waren. Sie fühlten sich vielmehr samtig an, warm. Zögernd schloss sie ihre Finger um seine.
Ein gespannter Moment der Stille, in dem nichts geschah, entfaltete sich zwischen ihnen.
»Suieen?«, knurrte die Wiljar unruhig.
Marje? Wo ist Kiyoshi? Haben euch die Soldaten verfolgt?
Jetzt, wo die Verbindung zwischen ihnen länger bestand, konnte sie auch Sayuri in der Stimme erkennen. Es waren die glockenhellen Laute, die sie sich immer vorgestellt hatte, wenn sie überlegt hatte, wie Sayuri wohl sprechen würde. Fassungslos starrte sie ihre Freundin an.
Suieen hat es mir gezeigt. Er hat mich vor den Stadttoren gehört und mir geholfen, begann Sayuri begeistert zu erzählen. Es ist unglaublich. Ich kann sprechen! Mit dir! Mit ihm!
Sayuri griff nach ihrer freien Hand und drückte sie. Marje sah ihre leuchtenden Augen und fragte sich, ob sie ihre Freundin schon einmal so glücklich gesehen hatte.
Als ihre Gedanken zu Sayuris Frage zurückkehrten, schluckte sie schwer. »Sie kamen auf riesigen Echsen und Kiyoshi ist …«
»Die Söldner haben ihn mitgenommen«, stellte die Raubkatze fest. Sie hatte sich neben Suieen gestellt und stupste ihn unruhig in die Seite. »Die Sonne wandert«, knurrte sie mahnend.
Suieen unterbrach die Verbindung, indem er seine Hand zurückzog, sodass Marje nur noch den fragenden Blick ihrer Freundin sah. »Kiyoshi und ich haben für die Nacht Schutz in einer Senke gesucht. Dort haben die Söldner uns aufgespürt. Wir konnten fliehen in Richtung der Felsen«, flüsterte sie.
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