Scalzi, John - Metatropolis (Erzählungen)
dieser Art von Interface war Gennadi vertraut. Er musste den Blick nur auf einen bestimmten Befehl konzentrieren, worauf dieser die Farbe wechselte. Dann konnte er blinzeln, um ihn zu aktivieren, oder ihn verwerfen, indem er woanders hinschaute.
»Standardsoftware«, murmelte er, als er die Symbole durchging. »Geographische Dienste, Wikis, soziale Netzwerke … Was ist das?«
Hitchens und Veen hatten ihre Brillen ebenfalls aufgesetzt, so dass Gennadi das Symbol für alle sichtbar machen konnte, indem er mit den Fingern danach griff. Natürlich konnte er es nicht spüren, aber das kleine stilisierte R ließ sich auf den Tisch legen, wo es nun alle sahen.
Danail Gawrilow nickte und führte ein zufriedenes Lächeln für seinen Auftraggeber aus. »Das ist Ihr erster Zwischenhalt«, sagte er. »Ein kleiner Ort namens Rivet Couture .«
Hitchens entschuldigte sich und ging. Gennadi bemerkte es kaum. Er hatte das Symbol für Rivet Couture aktiviert und hörte sich den Vortrag einer üppig gebauten jungen Frau an, die in Wirklichkeit gar nicht existierte. Er hatte sie bewegt, so dass sie nun mitten im Raum zu stehen schien, aber Miranda Veen lief immer wieder durch sie hindurch.
Die hübsche Frau war ein Serling – eine Art Erzählerin, und im Moment führte sie Gennadi im Schnelldurchlauf in die Einzelheiten des Alternate Reality Games namens Rivet Couture ein.
Während sie sprach, hatten die Kameras und Positionssensoren in Gennadis Brille Schwerarbeit geleistet, um herauszufinden, wo er sich befand und welche Objekte es in seiner Umgebung gab. Während der Serling also erklärte, dass Rivet Couture in einer Pseudo-Gaslicht-Ära angesiedelt war – in einem Jahr 1880, das so nie existiert hatte -, mutierte alles, was sich in diesem Zimmer befand. Die Wände wurden mit einer durchscheinenden, schimmernden Blümchentapete überzogen, die Leuchtkörper verschwanden hinter geisterhaften Gaslampen aus Messing.
Miranda Veen lief wieder durch den Serling hindurch, und einen Moment lang glaubte Gennadi, dass das ARG auch sie bereits mit einem Overlay versehen hatte. Ihre hochgeschlossene Bluse und der lange Rock wirkten plötzlich völlig passend. Mit einem leichten Schreck sah er, dass ihre Ohrringe in Wirklichkeit kleine Zahnräder waren.
»Steampunk ist doch völlig aus der Mode, oder?«, sagte er.
Veen drehte sich zu ihm um und griff an ihre Ohrläppchen. Sie lächelte ihn an – es war das erste ehrliche Lächeln, das er von ihr gesehen hatte. »Meine Eltern standen auf New-Age-Zeug«, sagte sie. »Meine Rebellion bestand darin, mich einer Steam-Gang anzuschließen. Wir trugen Reifröcke und enge Westen, und ich steckte mir das Haar mit langen Nadeln zu einem kunstvollen Dutt hoch. Die Jungs trugen Kneifer und Paisley-Westen und solche Sachen. Ich bin schon vor langer Zeit aus der Szene ausgestiegen, aber der Stil gefällt mir immer noch.«
Gennadi musste sie unwillkürlich angrinsen. Das verstand er sehr gut – den Drang, sich einen kleinen Schritt vom Rest der Gesellschaft zu entfernen. Die Taschenuhr, die Veen wie einen Halsschmuck trug, war eine Art Talisman, der sie ständig daran erinnern sollte, wer sie war und dass sie einzigartig war.
Während Miranda Veens Talismane aus Zahnrädern und Armaturen bestanden, waren es im Fall von Gennadi Orte : Statt Messing trug er Erinnerungen an feuchte Betonhallen mit sich herum, an die düsteren Moderatortanks von Reaktorruinen, an blau schimmernde Wasserbecken voller verbrauchter Brennstäbe … an einen unbeleuchteten kommerziellen Kühlraum, in dem eine ganze Herde verstrahlter Rentiere wie weggeworfenes Spielzeug herumlag.
Rivet Couture war gar nicht so ungewöhnlich. Viele Frauen trugen Dessous unter ihrer konservativen Arbeitskleidung, um den gleichen Effekt zu erzielen. Menschen ohne ein solches Ventil vermittelten Overlays wie Rivet Couture ungefähr das gleiche Gefühl, etwas Geheimes und Besonderes zu haben. Irgendwelche Kids liefen allein durch gewöhnliche Straßen von Berlin oder Minneapolis, doch gleichzeitig schlenderten sie Seite an Seite über das nebelverhangene Kopfsteinpflaster eines viktorianischen Atlantis. Viele von ihnen verbrachten ihre Freizeit damit, den Schauplätzen weitere Details hinzuzufügen, die Kleidung zu entwerfen und die Geschichte von Rivet Couture zu erarbeiten. Es war viel mehr als nur ein Spiel, und es fand weltweit statt.
Miranda Veen rollte ihre Koffer zur Tür, und Fraction öffnete sie für sie. Sie drehten sich zu
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