Scalzi, John - Metatropolis (Erzählungen)
fangen an, sobald Sie aufgegessen und sich frischgemacht haben.«
Gennadi sah Veen stirnrunzelnd an. »Und womit fangen wir nun an?«
Veen und Hitchens tauschten einen kurzen Blick. Fraction lächelte – hatte jemand in einer anderen Zeitzone ihm soeben den Befehl gegeben, das zu tun?
Gennadi war nicht in bester Stimmung, da er die ganze Zeit darauf wartete, dass er sich an irgendein Detail der vergangenen Nacht erinnerte und ihm die Zusammenhänge klarwurden. Obwohl der Kaffee langsam wirkte, wartete er vergeblich. Außerdem drängte es ihn, die Nachrichten zu verfolgen, um zu sehen, ob über seine Rentiere berichtet wurde.
Unvermittelt meldete sich Miranda zu Wort. »Hitchens hat Ihnen von seinem Problem erzählt. Vielleicht ist es an der Zeit, dass ich Ihnen nun von meinem erzähle.« Sie griff in eine Tasche zu ihren Füßen und legte ein E-Book auf den Tisch. Es hatte Quart-Format und bestand aus dreihundert Seiten flexiblen E-Papiers, auf denen sich jeder beliebige Text darstellen ließ. Als sie es durchblätterte, konnte Gennadi sehen, dass sie die Seiten um handgeschriebene Notizen, Fotos und Webseiten ergänzt hatte, die alle an den Rändern des E-Papiers hingen. Die virtuellen Seiten waren wesentlich größer als das, was das physische Fenster zeigte, durch das man sie betrachtete, wie Miranda demonstrierte, indem sie mit den Fingern über eine Seite strich und den Haupttext verschwinden ließ. Worte und Bilder zogen vorbei, bis sie mit einem Fingerdruck einen bestimmten Ausschnitt auf der Seite fixierte. »Hier«, sagte sie und reichte Gennadi das E-Book.
Mitten auf der Seite erkannte er das vertraute Format einer E-Mail.
Mutter … (hieß es darin) Ich weiß, dass du mich davor gewarnt hast, den Schutz von Cascadia zu verlassen, aber in Europa ist es einfach wunderbar! Überall, wo ich war, wurde unsere Staatsbürgerschaft respektiert. Und du weißt, wie sehr ich das Land liebe. Ich bin vielen Menschen begegnet, die davon fasziniert sind, wie ich aufgewachsen bin.
Gennadi blickte auf. »Sie stammen aus den Städten?«
Sie nickte. Welche ursprüngliche Nationalität Miranda Veen auch immer gehabt haben mochte, sie war irgendwann zur Bürgerin eines panglobalen urbanen Netzwerkes geworden, dessen Städte insgesamt viel mächtiger waren als die Nationen, in denen sie lagen. Ihr Sohn mochte irgendwo im Vancouver-Portland-Seattle-Korridor (im Allgemeinen nur noch als Cascadia bezeichnet) auf die Welt gekommen sein – oder in Shanghai. Es spielte keine Rolle. Er war mit dem Recht aufgewachsen, in jeder dieser Megastädte – und in vielen anderen – zu leben und sich dort frei zu bewegen. Aber die E-Mail deutete daraufhin, dass seine Mutter es versäumt hatte, seine Geburt in einer der Nationen registrieren zu lassen, zu denen diese Städte angeblich gehörten.
Gennadi las weiter.
Jedenfalls bin ich gestern diesem Typen begegnet, einem Rucksacktouristen, der sich Dodger nennt. Er sagte, er hätte keine andere Staatsbürgerschaft als die des ARG, an dem er teilnimmt. Ich habe noch einmal nachgefragt, aber wirklich, also hat er mir einen Path-Link gemailt. Ich bin ihm quer durch Rom gefolgt, und bis jetzt war es fantastisch. Hier sind ein paar Schnappschüsse. Es folgten ein paar ziemlich banale Bilder von alten Straßen in Rom.
Gennadi blickte verwirrt auf. ARGs – Alternate Reality Games – gab es wie Sand am Meer. Millionen Jugendliche auf der ganzen Welt legten virtuelle Einblendungen und geographische Positionsdaten über den realen Planeten und entwickelten komplizierte Spiele, bei denen es um Reisen und bestimmte Details realer Schauplätze ging. Internet-Staatsbürgerschaften waren auch nichts Neues. Ein immer größerer Teil der Bevölkerung betrachtete sich als Bürger einer realen Nation und gleichzeitig einer virtuellen Online-Welt. Da die Ökonomie einer virtuellen Nation ein viel größeres Volumen haben konnte als die eines tatsächlichen Landes, waren solche doppelten Staatsbürgerschaften mehr als nur eine Spielerei. Es konnte eine größere Bedeutung als die offizielle Nationalität annehmen.
Somit war es gar kein so großer Schritt, sich eine Nationalität auf ARG-Basis vorzustellen. Also sagte Gennadi: »Ich verstehe nicht, was daran so signifikant sein soll.«
»Lesen Sie die nächste Nachricht«, sagte Veen. Sie lehnte sich zurück, kaute an einem Fingernagel und beobachtete ihn, während er die folgenden Texte las. Offenbar waren es mehrere E-Mails, die in die Seite
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