Scalzi, John - Metatropolis (Erzählungen)
Gennadi um, der immer noch vor der Verwüstung des Frühstückstisches saß. »Sind Sie bereit?«, fragte Miranda.
»Ich komme«, sagte er, stand auf und wechselte mit einem Schritt von Stockholm nach Atlantis.
Rivet Couture war auf anmutige Weise mit leichter Hand gezeichnet. Gewöhnlich fügte es dem, was man sah oder hörte, nur hier und dort einen Touch hinzu, gerade so viel, dass eine ansonsten normale Umgebung einen Hauch von Fremdartigkeit erhielt. Im Aufzug filterte Gennadis Brille das grelle Neonlicht, bis es wie Kerzenschein aussah. Auf dem Empfangstresen schimmerte eine kunstvoll verzierte Registrierkasse über dem Terminal, an dem der Angestellte arbeitete. Von der Straße hörte Gennadi leises Wiehern und sah Pferde mit schwarzen Mähnen irgendwo im schnell dahinfließenden Strom der Elektroautos.
Stockholm war bereits eine Mischung aus klassischer Herrlichkeit und sachlicher Moderne. Diese Straßen waren einst von Gaslaternen beleuchtet gewesen, und manche hatten bis heute Kopfsteinpflaster, insbesondere in der Umgebung romantischer Sehenswürdigkeiten wie dem königlichen Schloss. Rivet Couture musste sich gar keine allzu große Mühe geben, um die beabsichtigte Wirkung zu erzielen, vor allem, wenn die strahlend hellen sternförmigen Gestalten anderer Spieler erschienen. Man konnte sie kilometerweit sehen, selbst durch Gebäude und Hügel hindurch, was eine Begegnung mit ihnen erleichterte. RC untersagte bestimmte Formen des Kontakts – zum Beispiel gab es keine Telefone in diesem Spiel -, aber es dauerte nicht lange, bis Gennadi, Miranda und Fraction mit zwei anderen altgedienten Spielern in einem Café saßen.
Gennadi überließ Miranda die Führung, und sie stürzte sich enthusiastisch in eine Diskussion über Politik und Geschichte von RC . Offensichtlich war sie schon einmal hier gewesen, und es konnte nicht nur das Bedürfnis sein, ihren Sohn wiederzufinden, was sie bewogen hatte, sich so detailliert mit dieser Welt auseinanderzusetzen. Er beobachtete ihre Gesten, während sie sprach und ihr Lussebullar und ihr Kaffee kalt wurden.
Agata und Per erwärmten sich schnell für Miranda, aber gegenüber Gennadi waren sie etwas reservierter. Das war für ihn kein Problem, da er wie üblich in Gegenwart Fremder einen Knoten in der Zunge hatte. Doch beim Zuhören erfuhr er einige Dinge.
Das Atlantis von Rivet Couture war eine globale Stadt. Die Teile waren über die ganze Welt verstreut, und ihre Lage verschob sich in Abhängigkeit von den Aktionen der Spieler. Man konnte sein Overlay wechseln und das eines anderen Stadtviertels wählen, doch dadurch verlor man den Bezug zu dem, in dem man sich befunden hatte. Im Allgemeinen war das kein Problem, aber es konnte bedeuten, dass andere Spieler für einen plötzlich unsichtbar wurden oder aus dem Nichts auftauchten.
Das Spiel war kostenlos. Das war eine Überraschung für Gennadi, aber keine allzu große. Es gab sehr viele Open-Source-Spiele, aber nur wenige waren so detailliert und komplex gestaltet wie dieses. Gennadi hatte vermutet, dass eine Menge Geld dahintersteckte, aber stattdessen hatte das Spiel etwas, das genauso gut war: das Engagement einer großen Anzahl von Fans.
Das Ziel des Spiels bestand darin, Macht und Einfluss innerhalb der Gesellschaft von Atlantis zu gewinnen. In RC ging es um Politik, und die meisten Spielzüge ereigneten sich während der Konversationen. Der älteste Vorläufer war möglicherweise ein Brettspiel aus dem 20. Jahrhundert namens Diplomacy . Gennadi erwähnte diesen Zusammenhang, worauf Per lächelte.
»Das Brettspiel, ja«, sagte Per, »aber es hat mehr Ähnlichkeit mit Postspiel-Versionen wie Slobovia , wo man eine kurze Geschichte zu jedem Spielzug schreiben musste. Wie die Figuren in den Slobovia-Geschichten sind wir Diplomaten, Kurtisanen, Taschendiebe oder Minister. Natürlich allesamt korrupt«, fügte er mit einem weiteren Lächeln hinzu.
»Und wir nutzen gerne Neulinge aus«, setzte Agata mit einem anzüglichen Grinsen hinzu.
»Ach ja«, sagte Per, als hätte ihn das an etwas erinnert. »Genau das werden wir jetzt tun. Als in Ungnade gefallener Innenminister Puddleglum Phudthucker habe ich viele Feinde, und die meisten meiner Landsleute werden observiert. Sie müssen diese Diplomatenpost zu einem meiner Mitverschwörer bringen. Wenn Sie unterwegs überfallen und getötet werden, ist das nicht mein Problem – aber sorgen Sie bitte dafür, die Tasche beim ersten Anzeichen von Schwierigkeiten
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